: Puristen gegen Brodisten
Alle zwei Jahre feiern die Kafka-Fans in Prag. Ein Bericht vom Franz-Kafka-Tag 2003
Erstmals trafen sich am 3. Juli 1963, dem 80. Geburtstag Franz Kafkas, einige tschechische Literaten, um des großen Prager Schriftstellers deutscher Sprache mit einer öffentlichen Lesung auf dem Wenzelsplatz zu gedenken. Seit 1995 findet nun alle zwei Jahre in Prag der Franz-Kafka-Tag statt. Dann strömen am 3. Juli Kafka-Fans aus der ganzen Welt in die tschechische Hauptstadt, um ihr Idol zu feiern – wie auch in diesem Jahr.
Es ist acht Uhr morgens. Der frühen Stunde zum Trotz drängen sich tausende in den Gassen des Staré Mesto, dem Prager Altstadtviertel. Sie sind Teil des großen Umzugs, der sich traditionell um 7 Uhr 35, dem Zeitpunkt, zu dem Kafka 15 Jahre lang jeden Morgen seinen Dienstweg zur „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ antrat, in Gang setzt.
Kaum einer, der nicht verkleidet wäre. Verlängerte Ohren und tiefer gelegter Haaransatz sind die Merkmale des typischen Kafka-Enthusiasten, wie er uns auf Schritt und Tritt begegnet. Viele haben sich in eng sitzende, altmodische Anzüge gezwängt, tragen Binder und Hut. Manche führen zudem einen verwackelten Schäferhund mit sich, auf dessen Kopf sie die rechte Hand ruhen lassen. Ganze Familien – Mutter, Vater, Kinder – sind als Kafka verkleidet oder gehen als Kafka im Kreise seiner Lieben. Ein Glückspilz spaziert in Begleitung mehrerer hübscher Tschechinnen, die sich lautstark und gestenreich streiten. Es handelt sich um Darstellungen seiner beiden Verlobten Felice und Julie sowie Dora Diamants und einer namenlosen Liebesbekanntschaft, die um Kafkas Gunst buhlen. Der jedoch erhört keine von ihnen, sondern ruft ununterbrochen: „Sastupoi mi na sanacii! Bringt mich ins Sanatorium!“
Es dauert Stunden, bis die dreißig Orte, die in Kafkas Leben eine wichtige Rolle spielten, abgelaufen sind: Allein sieben verschiedene Wohnungen wollen besucht werden, daneben die Juristische Fakultät, Nachtlokale, Orte, an denen er Milena nicht und auch nicht Blanka küsste. Die letzte Station, das Gebäude von Kafkas erstem Arbeitgeber, liegt am Wenzelsplatz, und es ist Mittag, als wir dort ankommen. Wir rasten und bewundern die bizarren Blüten, die die Kafka-Verehrung hier treibt.
Menschen werfen sich wie im Anfall zu Boden, drehen sich auf den Rücken und zappeln hilflos mit Armen und Beinen. Blasse junge Männer, die den Leidensweg Kafkas nachspielen, bespucken das Pflaster mit Blut, das nach Himbeersirup duftet. Die gelungensten Vorführungen werden von den Umstehenden beklatscht. Allerorten wird aus Werken Kafkas zitiert – vom billigen Taschenbuch bis zur wertvollen, mit weichen Lederhandschuhen getragenen, ersten Edition findet sich jede Ausgabe.
In der Mitte des Platzes lodert ein Feuer: Hier ist der zweijährliche Schaukampf zwischen den „Brodisten“ und den „Puristen“, deren Wahrzeichen eine brennende Dohle ist, in vollem Gange. Während die Puristen, nach deren Überzeugung nur die sieben zu Lebzeiten veröffentlichen Werke publiziert werden sollten, Bücher mit den posthum erschienenen Schriften ins Feuer werfen, stürzen die Brodisten dazu und greifen mit bloßen Händen in die Flammen, um jedes Wort für weitere zwei Jahre für die Nachwelt zu retten. Als wir den Ort des Spektakels verlassen, um uns zur Moldau durchzukämpfen, starten die Puristen gerade die nächste große Offensive.
Eingeweihte wissen, dass der Schiffsverkehr heute eingestellt ist. Es sind ausnahmslos Touristen, die die teuren Tickets für den Traditionsdampfer „MS Amerika“ kaufen, ahnungslos, dass ihr Schiff nicht ablegen wird, trotz der beruhigenden Durchsagen, die alle fünf Minuten auf Englisch, Italienisch und Japanisch erfolgen. Ebenso werden die Trams und Busse, deren Endhaltestelle der Hradschin, das Prager Schloss ist, ihr Ziel nie erreichen. Reisende, die sich genarrt fühlen, können ihre Tickets in Satalice, einem Außenbezirk der Stadt, an einer Bude hinter dem Bahnhof umtauschen.
Mit viel Mühe erreichen wir die Karlsbrücke. Von hier hat man einen guten Blick auf die Kajaks, die in großer Zahl auf dem Wasser treiben, auch sie mit Verkleideten besetzt, und einem Brauch folgend, über dessen Anfänge keiner mehr etwas weiß.
Als es dunkel wird, strömen die Menschen in das hell erleuchtete Stadion von Sparta Prag. Die beliebtesten Schauspieler und Musiker des Landes wechseln sich mit Rezitationen und Vertonungen der Schriften Kafkas ab. Zwischendurch werden Grußbotschaften aus dem In- und Ausland verlesen, unter anderem aus Zuckmantel, Spitzberg und Wien. Punkt 23 Uhr 14 erlöschen die Scheinwerfer, auf den Schlag genau zu jener Minute, die mithilfe der Tagebuchaufzeichnungen und der Kabbala als statistischer Mittelwert errechnet wurde, zu dem Kafka abends das Licht seiner Bettlampe ausknipste. Schweigend und friedlich erheben sich die Besucher und verlassen das Stadion. Uns verbindet das Bewusstsein, dem unvergänglichen Geist Franz Kafkas besonders nahe zu sein; es ist ein Wunder, das wir nicht singen.
Nur an einzelnen Orten wird noch bis früh in den Morgen weitergefeiert, während tausende Freiwillige beginnen, alle Spuren des großen Festtages zu beseitigen. Wer erst am nächsten Tag in die Stadt kommt, wird keinen Hinweis mehr darauf finden, dass hier nur 24 Stunden zuvor das größte Literaturfest der Welt gefeiert wurde. OLIVER SIMON