Befreit vom Geist des missmutigen Schinders

Trainer Falko Götz setzt beim TSV 1860 München bevorzugt auf junge Spieler. Für ein 1:1 gegen Schalke reicht es schon

MÜNCHEN taz ■ Man schrieb die 81. Minute im Münchner Olympiastadion und Andreas Görlitz spurtete die Seitenlinie entlang. Von ganz hinten, aus der Abwehrkette heraus, bis an den gegnerischen Strafraum. Als gäbe es das alles nicht: die Gegenspieler, die müden Beine, die 44 Grad, über die alle klagten. Als gäbe es nur ihn, den Ball – und die Lust an diesem Spiel.

Irgendwo hat Görlitz den Ball dann verloren, aber das war nicht entscheidend. Das 1:1 des TSV 1860 München gegen Schalke 04 war zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon so festgezurrt wie die Lastgurte eines Kamels auf Wüstentour. Aber wie er da durch die Hitze sprintete, Andreas Görlitz, 21 Jahre, das symbolisierte wie keine andere Szene den Neuanfang des TSV 1860. Und einen endgültigen Schlussstrich, der damit verbunden ist.

Es ist noch gar nicht so lange her, da personifizierte Werner Lorant den TSV 1860, der missmutige Schinder, der Wüterich auf der Trainerbank. Das machte das Zuschauen bisweilen amüsant, es war aber nicht genug. Stets hatten sich die Löwen vor allem über ihre Rivalität zum FC Bayern definiert. Doch seit Klubpräsident Karl-Heinz Wildmoser mit dem Erzfeind paktierte, erst den Umzug ins Olympiastadion und dann den Bau einer gemeinsamen Arena verabredete, verlor der einstige Arbeiterklub an Profil. Manche sagen: Er verlor seine Seele. Zuletzt spielte 1860 manchmal vor weniger als 5.000 Zuschauern.

Auch Görlitz war zu dieser Zeit schon im Verein. Und Benjamin Lauth. Beide spielten bei den Amateuren in der Bayernliga. Beide spielten gut, aber ohne echte Perspektive. „Lauth“, raunzte Lorant bis zuletzt, „kenn’ ich nicht.“ Erst unter seinen Nachfolgern, zunächst Peter Pacult und jetzt Falko Götz, hat sich das geändert. Lauth ist zum Löwen-Popstar aufgestiegen, hat es in der vergangenen Saison in die Bravo und in die deutsche Nationalmannschaft geschafft. Jetzt erhält auch Görlitz die Chance auf einen Stammplatz.

Dahinter steckt Kalkül. Wildmoser weiß, dass es kein Zurück gibt, nicht ins geliebte Grünwalder Stadion, nicht zum ehrlichen, aber einfachen Arbeiterklub. Er weiß aber auch, dass der Verein Profil braucht, um zu überleben – eine Art von Profil, die auch in einer hypermodernen Allianz-Arena funktioniert. Deshalb hat er Falko Götz verpflichtet, weil der bekannt dafür ist, dass er gerne mit jungen Spielern arbeitet. „Das ist meine Philosophie“, sagt Götz: „1860 soll der Klub werden, der jungen Talenten eine Chance gibt.“ Routiniers wie Häßler, Max und Suker mussten den Verein verlassen. Außer Janne Saarinen von Rosenborg Trondheim wurden nur Nachwuchskräfte verpflichtet, die die klamme Vereinskasse nicht belasteten. Das rief die selbst ernannten Fußball-Experten auf den Plan: Paul Breitner teilte mit, für ihn seien die Löwen ein Abstiegskandidat. Max Merkel ließ vermelden, 1860 sei reif für Liga zwei.

Götz weiß, dass er ein großes Risiko eingeht. Doch Lauth und Görlitz demonstrierten am Samstag gegen Schalke, dass das Jugend-Projekt der Löwen genauso gut Erfolg haben kann. In der 19. Minute hob Lauth den Ball über zwei Gegenspieler, mit Augenmaß und ganz viel Gefühl, genau auf den Kopf des freistehenden Markus Schroth. Der erzielte per Kopf das 1:0. Zwar gelang Dario Rodriguez noch der Ausgleich, doch nach zwei Spielen steht 1860 mit vier Punkten im vorderen Tabellendrittel.

Und dann hat mit Falko Götz auch ein neuer Stil den TSV 1860 erreicht. Götz hält viel von Disziplin, jedoch nicht von der archaischen Variante, die Lorant jüngst wieder vorführte, als er bei einem D-Jugend-Spiel auf den Platz stürmte und den Gegenspieler seines Sohnes attackierte. Götz verkörpert eine moderne, bisweilen kühle Präzision. Eine jedoch, die Emotionen nicht ausschließt. Nach seinem 80-Meter-Spurt machte Andreas Görlitz den Anhängern ein Zeichen: Feuert uns an! Für die Zukunft. Gegen die selbst ernannten Experten. Und um den Wüterich, der während des Spiels immer für Nikotinpflaster warb und sich danach genüsslich eine Zigarette ansteckte, endgültig zu vergessen. CLAUDIO CATUOGNO