„Von allem tritt das Gegenteil ein“

Ein Gespräch mit Ahmir „?uestlove“ Thomson über das neue Album der HipHop-Gruppe The Roots, die Schwierigkeit, als Rapper mit den Erben von Malcolm X zu verhandeln, die Bedeutung von Wendepunkten und über den Zusammenhang von Underground-HipHop und amerikanischer Politik

INTERVIEW MICHAEL TSCHERNEK

taz: Eigentlich soll auf dem Cover Ihres neuen Albums „The Tipping Point“ ein Foto des amerikanischen Bürgerrechtlers Malcolm X abgebildet werden. Auf der Vorabversion des Covers sind stattdessen Bilder von den Roots-Mitgliedern zu sehen, die lediglich im Stil des Malcolm-X-Fotos aufgenommen wurden. Warum dieses Verwirrspiel?

?uestlove: Ja, das ist auf ein Arrangement zurückzuführen, das wir mit der Nachlassverwaltung von Malcolm X getroffen haben. Wir dürfen das Malcolm-X-Cover lediglich auf dem Album selbst verwenden. Wie dürfen damit nirgendwo sonst Werbung betreiben.

Warum?

Im Grunde breche ich gerade eine der Vertragsbedingungen, denn wir dürfen eigentlich auch nicht darüber sprechen. Aber ich glaube kaum, dass sie die Veröffentlichungen hier verfolgen. Unser Ziel war es, ein zentrales Moment in der Geschichte der amerikanischen Popkultur aufzugreifen, das auch ganz deutlich einen „Tipping Point“, einen Wendepunkt, repräsentiert. Bei dem Bild, das wir von Malcolm X verwendet haben, handelt es sich um ein Verbrecherfoto. Eines dieser Fotos, bei denen man ein Schild mit seinem Namen und ein paar weiteren Infos für die Kartei hochhalten muss. Sie wollten nicht, dass wir das Schild zeigen, also den Teil des Bildes, der das Bild als Verbrecherfoto erkennbar macht. Sie hatten den Eindruck, dass das einigen Leuten die falsche Botschaft vermitteln würde.

Um Malcolm X nicht auf seine kriminelle Vergangenheit zu reduzieren?

Oh ja, damals kannte man ihn noch als „Detroit Red“. Im Alter von 21 wurde er wegen eines Vergehens verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Dort begegnete er den Lehren von Elijah Muhammad, dem Führer der Nation of Islam, wandelte sich zu einem loyalen Schüler und nahm den Namen Malcolm X an.

Das war sein „Tipping Point“, sein Wendepunkt.

Genau darauf wollten wir mit diesem Porträt abstellen. Aber das war nicht so leicht zu vermitteln, die Leute nehmen sich halt nicht wirklich die Zeit, so etwas zu erforschen. Wenn man also nur von deinem Anwalt zu hören bekommt: „Da gibt es diese Rap-Gruppe, die ein Verbrecherfoto von deinem Vater verwenden möchte“, schreckt man natürlich erst einmal zurück. Zu unserem Glück ist eine der Töchter von Malcolm X mit den Roots vertraut. Ich denke, dass uns das entscheidend geholfen hat.

Worum geht es denn beim Prinzip des „Tipping Points“? Der Begriff wurde von Malcolm Gladwell, einem Journalisten des Magazins New Yorker, geprägt, der ein erfolgreiches Buch mit dem Titel „The Tipping Point“ verfasst hat.

Es geht darum, aufzuzeigen, wie ein kleiner Schritt den Rest deines Lebens beeinflussen kann. Malcolm X wurde wegen irgendeiner Kleinigkeit festgenommen. Mir kommt es darauf an, damit ein Beispiel dafür zu geben, wie sich aus etwas Kleinem etwas ganz Großes entwickeln kann.

In welchem Zusammenhang steht das mit den Roots?

Nun, normalerweise haben die Titel, die wir unseren Alben geben, eine dreifache Bedeutung. Natürlich muss der Titel zunächst eine Bedeutung für uns haben. Darüber hinaus sollte er eine übergreifende, eine globale Bedeutung haben. So bin ich davon überzeugt, dass die Präsidentschaft von George Bush einen Wendepunkt in Bezug auf Dinge darstellt, die sich in der Zukunft ereignen werden. Ich will hier keine Apokalypse heraufbeschwören. Ich sage nicht, dass es von nun an nur noch bergab geht, aber zweifellos kann man bereits die Risse an wichtigen Nahtstellen erkennen. Darin sehen wir jedenfalls den Bezug zwischen dem Albumtitel und der Welt. Aber wir sehen auch einen Bezug zum HipHop. In der Geschichte des HipHop gab es zahlreiche Hochs und Tiefs. Und ich habe den Eindruck, dass gerade dieses Jahr ein besonders merkwürdiges, ironisches Jahr für den HipHop darstellt. Insofern als vier bis dato ausgesprochen undergroundige und kaum gehörte Gestirne aus dem HipHop-Feld jetzt ganz plötzlich mehr im Blickpunkt des Mainstreams stehen als jemals zuvor in ihrer Karriere. Nie im Leben hätte mir jemand erzählen können, dass Kanye West, Dilated Peoples, Talib Kweli und Mos Def, vier Einheiten, die in den vergangenen acht Jahren eher unbedeutend im Bereich des HipHop waren, plötzlich ganz oben mitschwimmen.

Worauf ist diese Entwicklung Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

Ich habe da so meine Theorie in Bezug auf die erste Dekade des neuen Jahrtausends. Die Leute sehen in den Sechzigerjahren eine Dekade der Revolution. Die Siebziger werden als die Ich-Dekade verstanden. Die Achtziger sind die Dekade der Ausschweifungen. Die Neunziger sind für mich eine nihilistische Dekade, in Bezug auf die Mitte der Neunziger würde ich jedoch bereits vom Beginn einer Dekade der Ironie sprechen.

Sprechen Sie jetzt noch in Bezug auf HipHop oder eher allgemein?

Das gilt auch für den HipHop. Ich denke, dass wir jetzt gerade die Spätfolgen der Ironie-Dekade erleben. Es scheint so, als ob zwischen 2000 und 2010 das Gegenteil von so ziemlich allem eintritt, was man erwarten konnte. Das Ergebnis ist zum Beispiel darin zu sehen, dass ausgerechnet ein Schwarzer die Nummer eins im Golfsport ist, nämlich Tiger Woods. Während die Nummer eins unter den Rappern ein Weißer ist, nämlich Eminem. Das hätte mir in den Achtzigern niemand erzählen können, dass ein 25-jähriger Schwarzer jeden Weißen in jedem beliebigen Golfturnier wegputzen wird. Das war unvorstellbar.

Und wie kommt es dazu?

Ich glaube, dass das seinen Ursprung in der Zeit von Bill Clintons Amtseintritt hat. Zwei Dinge sind damals geschehen. Die Ära des Grunge kam auf. Vor 1991 wurde der Lebensstil der Weißen, zumindest aus der Sicht von Minderheiten, mit allem in Zusammenhang gebracht, was vornehm, reich und gebildet war. Mit der Grunge-Bewegung gab es plötzlich die bodenständigsten Bilder von Weißen im Entertainment und in der Kultur allgemein zu sehen, die mir jemals untergekommen sind. Das war alles sehr nihilistisch, sehr Anti-Establishment. So etwas hat man seit der revolutionären Dekade der Hippies nicht mehr gesehen. Kurt Cobain war der Antiheld.

Auf der anderen Seite haben uns die Neunziger Puff Daddy gegeben, der gewissermaßen mit einem Schlag für die Schwarzen den gegenteiligen Lebensstil von dem repräsentierte, womit man bis dato die Schwarzen in Verbindung gebracht hat. Plötzlich dachte man dabei an einen üppigen, reichen, feierlichen Lebensstil. Als Bill Clinton kam, empfanden die schwarzen Menschen ein täuschendes Gefühl des Sieges. „Wir haben gewonnen. Wir haben gewonnen“ (mit hoher, überdrehter Stimme), feierten sie. Und man dachte sich automatisch: „Was haben wir gewonnen?“ (lacht) Im Grunde gar nichts, aber man konnte die Freude unter den schwarzen Menschen in allen Bereichen der Politik und der Kultur sehen. Und dieses Glücksgefühl begann sich auch in der Musik niederzuschlagen. Musik, die eher politisch engagierte Töne anschlug, wurde über Bord geworfen, und stattdessen wurde nur noch gefeiert. Wir feierten also einen ausschweifenden Lebensstil, während die Weißen einen armen Lebensstil pflegten.

Es stand gewissermaßen alles auf dem Kopf?

Sehen Sie sich doch nur einmal zwei der größten Figuren der modernen schwarzen Musik an. In der Glanzzeit von „Thriller“ hätte mir niemand erzählen können, dass Michael Jackson 20 Jahre später möglicherweise für 50 Jahre ins Gefängnis muss. Er könnte ein Krimineller sein. Auf der anderen Seite haben wir Prince. Das ist der Mann, für den der Parental-Advisory-Aufkleber überhaupt erst erfunden wurde. Heute ist Prince die konservativste religiöse Figur, die es jemals in den USA gegeben hat. Er ist ein strenggläubiger Zeuge Jehovas, ein Mann Gottes. Jedes Mal wenn ich ihn treffe, kann ich mit ihm noch nicht einmal über Musik reden. Da muss ich über Gott sprechen. Das meine ich, wenn ich von dem Zeitalter der Ironie spreche.

Da sehen Sie also die Stunde der Underground-HipHopper gekommen?

Ja, urplötzlich ist Underground-HipHop eine prominente Sache, und das hat auch wieder viel mit der Zeit zu tun, in der wir leben. Bill Clinton ist nicht mehr Präsident. Jetzt haben wir George Bush. Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit hat sich in den USA breit gemacht. Was ist passiert? Wir haben so viel gefeiert, dass wir darüber ganz vergessen haben, dass die Welt kurz vor ihrer Zerstörung steht. George W. Bush ist auf dem besten Weg, das mit einem Schlag zu erledigen. Das ist ganz klar ein „Tipping Point“ für HipHop.

Da bleibt immer noch die Frage offen, was das für die Roots bedeutet?

Malcolm Gladwell beschreibt in „The Tipping Point“, wie sich ein kleiner Gedanke wie ein Virus ausbreitet, um schließlich zu einer Art Phänomen zu werden. Für uns bedeutet das Folgendes: Vor zwölf Jahren waren wir noch eine kleine Idee auf lokaler Ebene in Philadelphia, Pennsylvania. Und irgendwie hat sich diese Idee zuerst nach New York, dann über die Ostküste, dann über die USA und auch außerhalb Amerikas verbreitet. Wir befinden uns jetzt in Frankfurt. Wie weit ist Moers von Frankfurt entfernt?

Zwei oder drei Stunden mit dem Auto.

Beim Jazz-Festival in Moers hatten wir einen unserer ersten Auftritte in Europa. Da durften wir spielen, obwohl wir noch nicht einmal einen Plattenvertrag hatten. Genau genommen haben wir unseren Plattenvertrag sogar über eine unserer Shows in Moers erschlichen. Wir haben den Vorgang einfach etwas verdreht wiedergegeben: „Seht her, wir haben Deutschland in Grund und Boden gespielt. Wir mussten fünf Zugaben geben. Und ihr müsst uns einen Vertrag geben.“ Sie sagten: okay, und schon war der Vertrag unterschrieben. Moers haben wir also einiges zu verdanken. Es war immer die Politik unseres Labels, den Leuten die Zeit zu geben, uns zu entdecken. Und sie wussten, dass das ein langwieriger Prozess sein wird. Aber du kannst beobachten, wie es nach und nach mit jedem Album nach oben geht. Am Anfang lagen wir bei 300.000 verkauften Exemplaren, dann 600.000 und dann noch eine Verdoppelung. Es wächst langsam.