: Die verknoteten Füße der Großmutter
Das Wolfsburger Kunstmuseum zeigt unter dem Titel „ Auf der Spitze des Eisbergs“ junge finnische Fotografen der „Helsinki School“. Deren Künstler vermarkten sich seit einigen Jahren international und professionell. Doch die meisten ihrer Arbeiten sind eher dekorativ als kreativ geraten
VON PETRA SCHELLEN
Es gibt da etwas, das man gemeinhin als nordeuropäische Ästhetik bezeichnet. Ein bestimmtes Timbre: leise, klar und ein bisschen beim dort so beliebten Funktionalismus abgeschaut. Es sind jene kargen, fast abstrakten Erzählungen, Gemälde, Fotos, die Landschaft und Menschen Norwegens, Schwedens, Finnlands aufs Minimum zu reduzieren, ohne verkrampft ambitioniert zu wirken.
Trotzdem ist der Grat zwischen Authentizität und eigens für Kontinentaleuropäer gefertigten Exotismen schmal; prominentes Beispiel sind die Covers der in Deutschland penetrant beliebten nordeuropäischen Krimis. Da kann man von einer Ausstellung moderner finnischer Fotografie, wie sie derzeit im Wolfsburger Kunstmuseum gezeigt wird, mehr erwarten – insbesondere dann, wenn sie die „Helsinki School“ präsentiert, die aus der dortigen University of Art and Design hervorging. Sechs Künstler dieser ambitionierten Gruppe hat man für die Schau ausgewählt, aber die Arbeiten halten nur teils, was man sich von ihnen verspricht.
Als gefällige, Geo-taugliche Fotostrecke erweisen sich zum Beispiel Tiina Itkonens Grönland-Fotos. Sie zeigen Eisberge sowie grönländische Dörfer, und die Künstlerin betont, dass sie die Folgen des Klimawandels demonstrieren wolle. Doch anstatt dasselbe Dorf mehrere Jahre hintereinander – und zunehmend eisfrei – zu zeigen, hat sie höchst ästhetische, vereinzelte Eisland-Idylle ausgestellt, von seriell angelegter Dokumentarfotografie keine Spur. Nun gut: Es wurden einige Aufnahmen von Inuit-Wohnungen dazugehängt, aber das soziologische Interesse glaubt man der Künstlerin angesichts des zwar ärmlichen, aber durchweg pittoresken Interieurs nicht. Sie hat vielmehr „Exoten“ fotografiert, mit deren Problemen sich folglich niemand zu identifizieren braucht und die als Projektionsflächen romantisierender Ideen dienen können.
Auch Joakim Eskildsens Fotos von Roma in Finnland und anderswo tun zwar den Porträtierten kein Unrecht: In all ihrer Würde präsentiert er die schwarzweiß aufgenommenen Menschen. Doch auch sie sind einen Hauch zu idealisierend ins Sonnenlicht gesetzt, und die Frage nach dem Umgang der Finnen mit dieser Minderheit stellt keins der Fotos. Das ist schade, denn es ist zweifellos eine interessante Idee, sich mit Roma in Nordeuropa, über die man wenig weiß, zu befassen. Doch Eskildsen verwässert diesen Ansatz, indem er gleich in halb Europa Roma fotografierte.
Originell ist eigentlich auch Ola Kolehmainens Idee, Häuserfassaden abzulichten, um Perspektive und Struktur zu ergründen und bei der Gelegenheit zu abstrahieren. Aber in seinen Arbeiten siegte letztlich Gefälligkeit über Originalität: Zu dekorativen Mustern hat er die Fassaden gemacht und sich an der Gleichmäßigkeit ergötzt, nicht etwa an der asymmetrischen Abweichung. Pertti Kekarainen wiederum hat gläserne Fenster- und Türdurchblicke in Szene gesetzt – auf brave Art abstrakt und in keiner Weise experimentell.
Schockierend oder beglückend ist keins dieser Fotos. Dafür verkaufen sie sich sicher gut, gern auch an Unternehmen, die ihre Gänge damit sorglos schmücken können – und damit ist vielleicht auch das Problem der „Helsinki School“ umrissen: Schon der Begriff entstand eher zufällig, und wenn ihr Gründer Timothy Persons ein Alleinstellungsmerkmal nennen soll, sagt er: der konzeptuelle Ansatz.
Doch das klingt recht allgemein und umreißt nicht das eigentliche Ziel, das der Ausstellungskurator und Dozent verfolgt: Systematisch hat er vielmehr seit Beginn seiner Lehrtätigkeit 1994 die Fotografiestudenten an der University of Art and Design animiert, ihre Arbeiten professionell zu präsentieren. Alsdann hat er die zunächst wandernde, inzwischen fest siedelnde Galerie TaiK gegründet, mit der er auf internationale Messen fährt, um seine Studenten bekannt zu machen.
Das ist ein ambitioniertes Projekt, und die Studenten verbuchen inzwischen internationale Erfolge. Konzeptionelle Weiterentwicklung und Kreativität scheinen dabei allerdings ins Hintertreffen zu geraten. Persons spricht inzwischen viel von „Erfolg“. Und obwohl er auch Vokabeln wie „künstlerische Qualität“ verwendet, erweisen die in Wolfsburg gezeigten Werke dies vor allem in technischer Hinsicht.
Sicher, könnte man einwenden, die Universität trägt ausdrücklich auch das Design im Namen. Trotzdem verpflichtet das die Künstler nicht auf eine stringent dekorative Sicht der Dinge. Dass immerhin einzelne Künstler der „Helsinki School“ eine abweichende Perspektive pflegen, zeigen die Fotos Pernilla Zettermans: Familiäre Konditionierungen wollte sie ergründen, genauer: Verhaltensmuster und Bewegungen von Generation zu Generation verfolgen, um einem bizarren Phänomen auf die Spur zu kommen, das womöglich einen geheimen Automatismus offenbart. Herausgekommen sind zum Beispiel Fotos nackter Füße unterm Tisch: Gedankenverloren haben die Protagonisten sie verdreht, die Zehen kreuzweise ineinander geschlungen. Es sind die Fußpaare dreier Generationen, die hier nebeneinander hängen. Die Erbfolge ist verblüffend, denn tatsächlich wird manche Geste komplett übernommen, eine andere teilweise. Auch existiert ein Generationensprung: Die Parallelen zwischen Oma und Enkelin sind stärker als die zwischen Mutter und Tochter.
Eine kleine, nicht zwingend repräsentative Erkenntnis, ein Rudiment nur, erfrischend bodenständig und konkret. Doch Pernilla Zetterman ist – glaubt man der Wolfsburger Schau – keine typische Vertreterin der „Helsinki School“. Sondern einer kreativen Fotografie, die, um intensiv zu sein, kein Label braucht.
Die Ausstellung „Auf der Spitze des Eisbergs – Neue Fotografie aus Finnland“ ist bis 24. 5. 2009 im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen.