Ein Verdacht, der im Raum steht
Die Dokumentarfilmerin Simone Bitton begibt sich in „Rachel“ auf die Spur eines tragischen Unfalls im Gazastreifen
Wie es im Gazastreifen eigentlich aussieht, ist trotz aller Fernsehbilder gar nicht so leicht zu erkennen. Was fehlt, ist ein gelegentlicher Zoom zurück, ein Aufziehen auf eine Totale, die sehen lässt, wo denn die Häuser genau stehen, auf die Bomben fallen, und wo denn die Tunnel genau enden, durch die aus Ägypten neue Waffen eingeschmuggelt werden. Der Dokumentarfilm „Rachel“ von Simone Bitton leistet unter anderem dies: Er zeigt ziemlich anschaulich, wie es an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten aussieht.
Den Anlass dazu findet die Filmemacherin in einem tragischen Fall. 2003 wurde die amerikanische Studentin Rachel Corrie von einem Bulldozer der israelischen Armee überfahren und getötet. Dem offiziellen Bericht nach handelte es sich um einen Unfall. Der Verdacht, der im Raum steht, beläuft sich auf Aggression. Der Lenker des mechanischen Ungetüms könnte mit Absicht die störende Demonstrantin unter seiner Maschine begraben haben. Die Aktivisten, die sich an Rachel erinnern und im Gespräch mit Simone Bitton den Fall neu aufrollen, kommen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen: gemeinsam ist ihnen, dass sie überwiegend aus den wohlhabenden westlichen Ländern stammen und sich für die Sache der Palästinenser einsetzen.
Das Risiko für Leib und Leben wird dabei vorab einkalkuliert, denn es ist eine Provokation, sich den Bulldozern in den Weg zu stellen, auch wenn dabei der gewaltlose Gestus, der dieser Handlung seit dem Prager Frühling, als Menschen in der ČSSR Blumen in die Rohre der sowjetischen Panzer steckten, anhaftet, nicht verlorengehen soll.
Aber nicht nur die Aktivisten kommen in „Rachel“ zu Wort, auch Sprecher und Soldaten der israelischen Armee erläutern ihr Vorgehen im Gazastreifen, der an wichtigen Stellen im Wesentlichen flachgemacht wird, damit für Terroristen keine Schlupfwinkel bleiben. Besonders beeindruckend ist aber das Archivmaterial, das der Aufklärung des Falls dient: aus Fotografien, Tonaufzeichnungen und Videos entsteht ein überraschend konkretes Bild der Ereignisse. Zugleich wird das Repräsentative dieses Falls erkennbar. Ein israelischer Soldat, der sich aus einem der Bulldozer herauslehnt, ruft den Aktivisten fast verzweifelt zu: „Das hier ist mein Problem, nicht euer Problem.“
Simone Bitton macht mit „Rachel“ deutlich, dass die Probleme in Israel und Palästina sich nicht auf individuelle Hilferufe eingrenzen lassen. BERT REBHANDL
„Rachel“. R: Simone Bitton. Frankreich, Belgien 2009, 100 Min.; 15. 2., 17.30 Uhr, Arsenal