Hölderlin auf Italienisch

Wozu Neuübersetzungen? Sie befreien die Texte von den Fesseln ihrer Epoche. Am Literarischen Colloquium gab Burkhart Kroeber ein Seminar über das Handwerk

Vom Shakespeare-Übersetzer Frank Günther gibt es eine Bemerkung, die es verdient hätte, als Zitat auf einem Kalenderblatt zu landen. Auf die Frage, warum man nach Schlegel/Tieck und Erich Fried den elisabethanischen Bühnenklassiker noch mal verdeutschen müsste, entgegnete er: „Leider müssen die Engländer Shakespeare im Original lesen.“ Günther verwies damit auf das Phänomen und damit Problem von klassischen Texten, die in ihrer eigenen Sprache den Moment ihrer Entstehung und Zeit einfangen – in ihm aber auch immer gefangen bleiben. Wenn sie gelingen, befreien Neuübersetzungen die Texte oftmals von den Fesseln ihrer Epoche und verleihen ihnen eine – wenn auch gebrochene – Aktualität. Man kann insofern Günthers Satz auch umkehren – und die Deutschen bedauern, dass sie Goethe nicht in Übersetzungen lesen können.

Frank Günther war letztes Jahr der Inhaber der Gastprofessur des deutschen Übersetzerfonds. Zum ersten Mal war ein Seminar für angehende Übersetzer organisiert worden. Für seine Fortsetzung in diesem Jahr hatte der bekannte Übersetzer von Umberto Eco und Italo Calvino, Burkhart Kroeber, die Leitung übernommen. Am Mittwochabend fand im Literarischen Colloquium die Abschlussveranstaltung statt, die ganz im Zeichen der Darstellung des Handwerkes stehen sollte. Was bei Übersetzern in der Regel als Zurücknahme ausgelegt wird, ist in Wirklichkeit Genauigkeit. Wobei aber die Präzision sich nach Maßgabe des Genauigkeitsverständnisses des jeweiligen Übersetzers richtet. Das Paradoxe dabei ist, dass etwas Diffuses entsteht. Zehn Eindeutschungen – beispielsweise eines Textes von Umberto Eco – ergeben zehn unterschiedliche Versionen. „Und jede hat ihre Würde“, betonte Kroeber.

Dass auf jedem Stuhl drei Seiten mit Textbeispielen auslagen, die dann ausgiebig von Kroeber kommentiert wurden, verlieh der Veranstaltung den Charakter eines Seminars. Es war auch eines – und zwar ein sehr schönes. Manchmal erinnerte diese Art der Kulturvermittlung aber auch an ihre theologischen Wurzeln: Die Auslegung des Textes vor der Gemeinde, die Sinnaufspaltung des Geschriebenen in Verständnismöglichkeiten. So verlief der operative Teil des Abends in runden Bahnen, wurde nie langweilig, weil Kroeber einen interessanten Dialog mit dem Publikum führte – angenehm sekundiert von den Übersetzern Georg Witte und Marie Luise Knott. Aber gelegentlich lief die Veranstaltung kurzfristig (und auf die beinahe erwartet lustige Weise) aus dem Ruder, wenn Teilnehmer der zahlreichen Besucherschaft die Gelegenheit nutzten, ihre Erfahrungen mit literarischen Texten lang und breit zum Besten zu geben.

Letztendlich demonstrierte der Abend drei Sachverhalte. 1. Den Zusammenhang zwischen akribischer Arbeit und bilingualer Sensibilität bei der Transformation von Literatur in eine andere Sprache als Wert an sich. 2. Die eigentliche Unabschließbarkeit des Übersetzungsprozesses, die jede Übersetzerarbeit – so erklärte es Witte – in die Nähe einer Verhandlung bringe; beim Abschluss der Arbeit bliebe auf der einen Seite immer ein Manko, andererseits holte man auch das Vorteilhafteste heraus. 3. Den Umstand, dass manche Übersetzungen einen neuen Ton in die deutschsprachige Literatur hineingetragen haben – erinnert sei hier beispielsweise an Dieter Zimmers Nabokov-Übersetzungen oder Curt Meyer-Clasons Übertragung von „Hundert Jahre Einsamkeit“.

Kroeber erzählte zum Abschluss von einem italienischen Übersetzer, dem es gelungen sei, Hölderlin auf außergewöhnliche Weise zu übertragen. Dieser habe eher eine punktgenaue, an die Literaturwissenschaft angelehnte Übersetzung bevorzugt – und sich nicht über ein dichterisches Einfühlungsvermögen Hölderlin angenähert. Das Ergebnis sei jedenfalls ein Glücksfall. Vielleicht sollte man Hölderlin mal auf Italienisch lesen. MANUEL KARASEK