„Einen Moment leuchtet Endlichkeit auf“

Wie die Psyche das Herz krank macht. Neue Erkenntnisse und Hilfsangebote. Im Gespräch mit Prof. Dr. Annelie Keil, ehemalige Dekanin der Universität Bremen und Direktorin des Zentrums für Public Health

taz: Frau Dr. Keil, Sie hatten selbst einen Herzinfarkt. Wie haben Sie das erlebt?Keil: Ich hatte schon sehr früh einen Infarkt. Zehn Jahre später bin ich dann an Krebs erkrankt. Das war in der Erfahrung die härtere Variante. Gar nicht in der Gefahr, denn es sterben immer noch mehr Leute am Herzinfarkt. Aber wenn man sagt, dass man Krebs hat, gucken die Leute, als wäre man schon tot. Wer einen Herzinfarkt hatte, gehört eigentlich zu den anständig Arbeitsamen, die es zum Glück überlebt haben. Nach dem Infarkt habe ich aber meine ganze Lebensgeschichte aufgearbeitet.

Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen der Lebensgeschichte und dem Erleiden eines Infarkts?Wir wissen jetzt, dass wir alles Erlebte auch körperlich übersetzen. In den 1970er Jahren haben wir uns um die Risikofaktoren Stress, Bluthochdruck, Rauchen und so weiter gekümmert. Erst jetzt decken die Neurobiologen das ganze psychosomatische Spektrum auf. Wir gewinnen neue Erkenntnisse.

Also suchen wir die Gründe für einen Infarkt nicht mehr nur in den bekannten Risikofaktoren, sondern auch im sozialen Umfeld des Patienten?Einen Herzinfarkt bekommt doch niemand von körperlich schwerer Arbeit, da bekommt man vielleicht Rückenprobleme. Der Herzinfarkt und der Bluthochdruck entstehen, weil das Herz ein Transmitter auch der Gefühlsebenen ist. Wenn kontinuierlich ein Organismus samt Gedanken und Gefühlen in eine Daueranspannung geht, kann ein Infarkt enstehen. Niemand kann immer 180-prozentig sein, da überzieht man ständig sein Konto um 80 Prozent.

Dann entsteht der Infarkt durch Überforderung?Wir haben genauso auch Infarkte bei Unterforderung. Nehmen wir den Tischler, der seine Selbstständigkeit aufgeben musste. In einer Fabrik produziert er jetzt nur noch Billigschränke. Da fehlt der Inhalt, der „Lohn“ für die Lebensleistung. Ein ganzes Lebensprinzip geht verloren. Auch ein Infarktrisiko!

Für viele kommt der Infarkt wie aus heiterem Himmel. Dann fallen sie in dieses tiefe Loch. Warum?Der Moment des Infarkts ist die dramatischste Begegnung mit dem Tod, die man sich nur vorstellen kann. Für einen Moment leuchtet die Endlichkeit auf. Der Infarkt führt uns an die Verletzlichkeit. Menschen, die besonders stolz auf ihre bisherige Gesundheit waren, und nun diese Überraschung liefern, leiden am meisten darunter. Die Kränkung, dass sie krank geworden sind, ist oft schlimmer als die Krankheit selbst. Krankheit bedeutet: Etwas hat sich für immer verändert. Das ist irreversibel. Du behältst die „Narbe“. Und die Angst bleibt und kann sich dann in Depressionen niederschlagen.

Bräuchte der Patient nicht gerade dann viel Aufmerksamkeit?In der Akutphase steht der Patient kurzfristig im Mittelpunkt, das nennen wir den sekundären Krankheitsgewinn. Zuwendung heilt auch. Viele Menschen werden krank, weil sie Entzugserscheinungen haben. Das kann der Entzug von Sauerstoff, von Bewegung oder von Gratifikation und Zuwendung sein. Doch die Angehörigen und auch der Betroffene bleiben oft nicht am Ball.

Was kann denn der Betroffene selbst für sich tun?Jetzt mal umgekehrt: An jedem Infarkt hängt ein Mensch. Der raucht. Der isst zu viel. Der drückt seine Wut runter oder belästigt alle damit - was auch immer. Der fühlt sich von der neuen Situation bedroht. Ich muss also im guten traditionellen Sinn eine Anamnese machen, mich selbst fragen: Wo geht es für mich besonders toll weiter? Kann ich dies noch oder das schon wieder tun? Was freut mich daran am meisten? Habe ich Lust, Prioritäten zu verändern?

Wie können der Partner und die Familie dabei helfen?Dem Betroffenen muss erst mal alles erlaubt sein: Freude, Trauer, Wut, alles. Dann kommt das Gespräch. Die Kommunikation in einer Familie muss erneuert werden. Auch der Partner muss lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Er ist auch gar nicht immer der beste Gesprächspartner. Vielleicht können die Partner gemeinsam mit einem Therapeuten arbeiten. Ein offener Dialog und ein „Mit-tragen“ muss gelernt werden.

Und die Ärzte ? Wo bleibt der behandelnde Kardiologe oder der Erstversorger?Sehr großen Einfluss haben die Akutmediziner, die im Moment der ersten bewussten „Begegnung“ mit der Krankheit da sind. „Ich habe meine Arbeit so gut getan wie es geht, jetzt lege ich Ihr Herz in Ihre Hand. Denken Sie wieder an Ihr Leben.“ Das hilft schon. Mehr Zuwendung. Ich fordere, dass der Chrirurg das Spezifisch-Menschliche in der Krankheit erkennt. BÖG