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Archiv-Artikel

„Was für Schmerzen haben Sie?“

Wie Italiens unglücklichster Hotelerbe das „Paradiso“ von seinen Gästen befreite

Wir standen vor einer Tür, hinter der sich das Tosen zu einer sägenden Hölle ballte

Das „Paradiso“ lag am Rand des Örtchens Masone wie ein alter müder Hund. Grau, massig, das Fell zerfressen von Schimmel und Efeu, der über die halb geschlossenen Fensterladen kroch wie grüner Star. Neben der Eichentür rostete ein Blechschild mit der Aufschrift „Albergo di prima categoria“. Augenscheinlich eine archäologische Kostbarkeit aus der Zeit, als Helmut Haller für den AC Bologna kickte.

Ich sah in die erschöpfte Gesichter der Damen, setzte den Rucksack ab und drückte entschlossen die Klinke herunter. Die Eingangshalle war hoch, kühl und menschenleer. Es roch nach Bohnerwachs und Fisch. „Hier stinkt’s“, bemerkte Angela. „Hier gibt’s was zu essen“, sagte die eher praktisch veranlagte Sabine und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ich drosch auf die Klingel. Der Klang brach sich an den marmornen Wänden, dann verhallte er im Nichts. Das Haus lag da wie tot. Die einzige Spuren menschlichen Lebens waren ein kopfloser Gartenzwerg, dessen Torso hinter dem Haus auf der grünen Spiegelscheibe eines Teiches dümpelte, und der abgezogene Leichnam eines Hasen, der zum Trocknen an der Wäscheleine hing.

„Igitt“, Angela verzog angewidert das Gesicht. „Gibt ein schönes Ragout“, sagte Sabine, die wirklich großen Hunger hatte. „Ist nur die Frage, ob wir was abkriegen“, dachte ich laut und schob die beiden wieder ins Haus. Wir wanderten durch die düsteren Flure, ohne einem Bediensteten oder Besitzer dieses merkwürdigen Etablissements zu begegnen. Endlich fand sich im dritten Stock eine offene Zimmertür. Die Damen warfen sich seufzend auf das große Doppelbett. Misstrauisch musterte ich die zerschlissene und viel zu kurze Chaiselongue, als aus dem Innereien des Hotels ein gotterbärmliches Wummern losbrach.

Angela erbleichte, und Sabine warf einen entsetzten Blick an die Decke, wo der Kronleuchter irrsinnige Pirouetten drehte, gleichzeitig legte sie mir ihre Hand auf die Schulter und flüsterte: „Hörst du das?“ Nun, ich war ja nicht taub. Aber auch ein wenig beunruhigt, denn eben begannen sich die brachialen Eruptionen von neuem durch das Treppenhaus zu wälzen. „Wie weit sind wir eigentlich vom Vesuv entfernt“, erkundigte sich Angela mit ersterbender Stimme. „Wir sind in der Toskana“, sagte ich, schluckte schwer, entschloss mich dann aber doch, einmal nachzusehen, was da eigentlich los war.

Gefolgt von dem entnervten Damenduo stieg ich die Treppen hinab, mit jedem Schritt tiefer in den Mahlstrom des akustischen Infernos tauchend. Endlich standen wir im Kellergewölbe vor einer Tür, hinter der sich das Tosen zu einer sägenden Hölle ballte, das meine Gedärme gefrieren ließ, mir aber doch irgendwie bekannt vorkam. Es klang wie „Purple Haze“ in einer Zwölftonversion, interpretiert von Glen Branka.

Ich trommelte mit den Fäusten gegen die Türfüllung, erhielt aber keine Antwort. Vor Grauen zitternd und einem Hörsturz nahe warteten wir in der beginnenden Dämmerung, ich weiß nicht wie lange, bis der Lärm plötzlich abrupt abbrach und man drinnen ein dumpfes Poltern vernahm.

Ich pochte abermals und rief meine gesamten Italienischkenntnisse zusammenraffend: „Cosa c’e che non va?“ – Was für Schmerzen haben Sie? „Da quanto tempo si sente cosi?“ – Wie lange fühlen sie sich schon so? Statt einer Antwort wurde die Tür aufgerissen. Ordinärer Rauch und träge Mariuhanaschwaden wehten uns entgegen. An der Wand der kleinen Kammer türmten sich Marshallverstärker, am Boden glommen die verkohlten Reste einer Fender Stratocaster. Ihr Besitzer stand schwankend neben der Türschwelle und verbreitete das Odium eines irischen Pubs kurz vor der Polizeistunde. Außerdem sah er aus wie Charles Manson. Um das Kinn wucherte ein zotteliger Bart, seine Haare hingen in fettigen Strähnen über einem T-Shirt, das den Kopf von Ozzy Osbourne zeigte, der seine kariösen Hauer gerade herzhaft in den Kopf einer Fledermaus schlug. Charles & Ozzy starrten uns mit irren Augen an. Wir starrten zurück. „Vorremmo una camera“ – ich möchte eine Zimmer, versuchte Sabine das Eis zu brechen. Der Zottelfreak rülpste, sagte: „Hey Joe!“, und fiel um.

Es wurde aber dennoch ein schöner Abend. Während Angela Charles & Ozzy mit Kaffee und kalten Umschlägen aufpäppelte, hatte Sabine die Küche gefunden, den Hasen von der Leine genommen und ein wunderbares Ragout gezaubert. Wie sich herausstellte, hieß Manson eigentlich Paolo Maldano und war der unglücklichste Hotelerbe Italiens, wenn nicht der ganzen Welt. Er hasste Gäste und liebte Jimmi Hendrix. Er hatte ihn als junger Mensch auf der Isle of Wight live gesehen und nach dessen viel zu frühem Tod den unwiderstehlichen Drang verspürt, das Werk des Gitarreros abzurunden, ja zu vollenden. Was dem Hotelbetrieb nicht gut bekam.

Kurz vor unserer Ankunft zum Beispiel hatte Maldano eine vierzigköpfige Abordnung der Turiner Feuerwehr des Hauses verwiesen, weil es die Herren gewagt hatten, sich über seine nächtlichen Hendrix-Exerzitien zu beschweren. „No krawallo“, brüllte er irre lachend, „no krawallo, arte geniale, stupido testa, stupido orrecchio“. Zwischendurch entkorkte er – untermalt von „Electric Ladyland“, das schwerst übersteuert aus einem Rekorder dröhnte – flaschenweise erstklassigen Rotwein und füllte sich und die entzückten Damen ab, dass es sich gewaschen hatte.

Wie gesagt, es war ein schöner Abend und eine schöne Nacht. Man schnarchte zu dritt im Damenbett. Ich hingegen zählte die Flöhe auf der Chaiselounge. Bezahlt haben wir nichts. Nur ich bestand am nächsten Tag auf ein Einzelzimmer.

MICHAEL QUASTHOFF