: Ein Rückschlag für die Waffenruhe
Bei zwei palästinensischen Selbstmordattentaten werden vier Menschen getötet und elf verletzt. Hamas übernimmt die Verantwortung für einen der Anschläge. Israel setzt die Freilassung von palästinensischen Häftlingen auf unbestimmte Zeit aus
aus Jerusalem ANNE PONGER
Bei zwei Selbstmordanschlägen sind gestern Morgen zwei Israelis und die Attentäter getötet sowie elf Menschen teils schwer verletzt worden. Die Extremistengruppe Hamas, aber auch der palästinensische Regierungschef Mahmud Abbas, hatten Israel am Wochenende vorgeworfen, die Waffenruhe durch fortgesetzte Militäroperationen und gezielte Liquidierungen im Palästinensergebiet zu brechen. Israelischen Regierungskreisen dienen die Selbstmordanschläge als Bestätigung ihres Standpunktes, die Terror-Infrastruktur entwickele sich weiter und müsse zerstört werden, wenn nicht durch die palästinensischen Sicherheitsorgane, dann im israelischen Alleingang.
Ein Israeli wurde getötet und zehn weitere teilweise schwer verletzt, als ein Selbstmordattentäter sich um neun Uhr morgens am bewachten Eingang eines Supermarkts im israelischen Städtchen Rosch Ha’ain in die Luft sprengte. Rosch Ha’ain liegt westlich der grünen Linie gegenüber den als Westufer-Terrorzentren geltenden Palästinenserstädten Nablus, Tulkarem und Kalkilia. Die Trennanlagen in diesem Bereich befinden sich im Bau- oder Planungsstadium.
Eine Stunde später zündete ein weiterer Attentäter seinen Sprengstoffgürtel an einer Tramper-Sammelstelle neben der Siedlerstadt Ariel, 10 Kilometer Luftlinie östlich von Rosch Ha’ain im besetzten Gebiet. Dabei wurde ein weiterer Israeli getötet und drei schwer verwundet. Die Ende Juni für zunächst drei Monate verabredete Waffenruhe (arabisch Hudna) hatte am Dienstag gerade Halbzeit gehabt.
Der palästinensische Regierungschef Mahmud Abbas bedauerte und verurteilte die Anschläge im Namen der Palästinenserverwaltung, gleichzeitig jedoch auch israelische Verstöße gegen die Waffenruhe. In Telefonanrufen an Nachrichtenagenturen übernahm Hamas die Verantwortung für den Anschlag bei Ariel. Hinter der Supermarkt-Attacke wird eine Splittergruppe der Fatah vermutet.
Hamas-Sprecher warnten im israelischen Rundfunk erneut, die Hudna umfasse nicht Stillschweigen gegenüber israelischen Provokationen wie der Militäroperation von Freitag im Flüchtlingslager Askar, bei der zwei hohe Hamas-Funktionäre liquidiert worden waren. Die Palästinenserbehörde tue alles in ihrer begrenzten Macht Stehende, um potenzielle Attentäter vor eventuellen Anschlägen gegen Israelis zu stoppen, betonte Elias Sananiri, Sprecher des palästinensischen Sicherheitschefs Mohammed Dahlan. Doch seien die Angreifer von Dienstag aus einem Gebiet eingedrungen, das unter voller Kontrolle des israelischen Militärs stehe. Eine Zerschlagung aller Splittergruppen, die sich der Hudna offiziell nicht angeschlossen haben, sowie die Konfiszierung aller illegalen Waffen sei innerhalb weniger Wochen unrealistisch, da man keinen palästinensischen Bürgerkrieg riskieren wolle, hob Sananiri hervor.
Während sowohl Israels Verteidigungsminister Schaul Mofas als auch Abbas angesichts der Hudna-Krise ihre Auslandsreisen abbrachen, verschob Israel die für gestern geplante Freilassung von 69 weiteren palästinensischen Häftlingen auf unbestimmte Zeit. Ministerpräsident Ariel Scharon traf am Nachmittag mit dem amerikanischen Nahostbeauftragten William Burns zusammen und drängte die USA, stärkeren Druck auf die Palästinenserbehörde auszuüben, bei der Zerschlagung der Terror-Infrastruktur entschlossener vorzugehen. Die Anschläge gaben Scharon Gelegenheit, Israels eigene Militäraktionen gegen Terrorzellen zu rechtfertigen und darauf hinzuweisen, dass die geplanten Sperranlagen, deren Verlauf US-Präsident George Bush kritisiert hatte, solche Attentate verhindern würden.
Die Zukunft der Hudna wird auf israelischer und palästinensischer Seite mit Besorgnis gesehen. Israels Dilemma liegt zwischen der Befürchtung, dass Hudna-Gegner im palästinensischen Lager die relative Ruhe zur Reorganisation und Entmachtung Abbas’ nutzen wollen, und der Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung vor geplanten Anschlägen zu schützen. Ministerpräsident Abbas’ Prestige wird durch Terroranschläge zweifellos geschwächt, doch könnte er mehr vertrauensbildende Maßnahmen von israelischer Seite statt „Hilfestellung“ durch kontraproduktive Militäraktionen brauchen.
meinung und diskussion Seite 12