: Ein echter Fliegenfuß
Samuel Pepys war im 17. Jahrhundert nicht nur Administrator im englischen Flottenamt, sondern auch ein besessener Tagebuchschreiber. Nach einer verlässlichen Gesamtausgabe von 1970 ist nun erneut eine fein illustrierte Auswahl dieser Tagebücher in einer geschmeidigen Übersetzung erschienen
VON NICOLAI KOBUS
Der Mann ist korrupt und eitel, ein Karrierist, er prügelt seine Hausangestellten und zuweilen auch seine Frau, wenn er sie nicht gerade betrügt, wozu er keine Gelegenheit auslässt. Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen? Genauer gesagt: eine Gebrauchtkutsche? Denn Samuel Pepys, von dem hier die Rede ist, war ein Zeitgenosse des englischen Barock. Nur verkaufte er keine Kutschen, sondern erwarb auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit großer Genugtuung selbst eine nagelneue.
Pepys, der von 1633 bis 1703 lebte, war Administrator im englischen Flottenamt, ein Beamter seiner Majestät Charles II. in London. Er wäre im Fußvolk der Geschichte unentdeckt geblieben, wenn er nicht über fast ein Jahrzehnt äußerst fleißig Tagebuch geführt hätte. Mehr als 3.000 Seiten umfassen seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1660 bis 1669, geschrieben in einer vermeintlichen Geheimschrift, in Wahrheit einer Art Steno, die damals an der Börse durchaus gebräuchlich war. Man fand die Tagebücher versteckt unter den zahlreichen Bänden seiner nachgelassenen Bibliothek. Wären sie zu Pepys Lebzeiten noch entdeckt worden, hätte das mindestens ein schnelles Ende seiner Laufbahn bedeutet, seiner Ehe sowieso.
Wir erfahren einiges über die Ausschweifungen bei Hofe, die inkompetente und reichlich ruinöse Regentschaft des Königs am Beginn der Restauration. Wir lesen vom zweiten holländischen Krieg (1664–1667), vom Ausbruch der Pest und erleben einen so atemlosen wie genauen Bericht über den großen Brand des Jahres 1666. Aber vor allem nehmen wir in allen Einzelheiten teil am ereignisreichen Leben des Samuel Pepys. Akribisch verzeichnet er seinen beruflichen Werdegang samt stetig wachsenden Privatvermögens; auch über eingestrichene Bestechungsgelder führt er sorgfältig Buch. Wir lernen viel über die Struktur von Haushalten im 17. Jahrhundert, die wir heute einem gehobenen Mittelstand zuordnen würden. Wir dürfen Rückschlüsse ziehen vom Speisezettel auf die Verdauungsprobleme des Hausherrn, die ihm ebenso der Aufzeichnung wert erschienen wie die Regelbeschwerden seiner Gattin oder die neueste Maitresse des Königs: „Den ganzen Tag nicht vor die Tür gegangen, nachdem ich morgens ein Abführmittel genommen hatte, das ganz ausgezeichnet wirkte. Da ich nichts anderes zu tun hatte, las ich Fullers History of the Holy War.“
In erster Linie aber sind es die Notate eines ungemein interessierten Bürgers. Eine lebhafte Neugier, die ihn zu Hinterhofspektakeln wie auch in naturwissenschaftliche Vorträge zieht. Seine Bemerkungen zu besuchten Theateraufführungen dürften ein ziemlich umfassendes Bild vom Londoner Spielplan der Zeit ergeben. Pepys liest über Geschichte, Ökonomie und immer wieder auch über Musik. Er spielt selbst mehrere Instrumente und wählt auch sein Personal nach musischen Talenten, nicht ohne beim weiblichen Teil zuerst Antlitz und Figur geprüft zu haben. Er war ein echter Fliegenfuß und klebte an jedem Rocksaum, der ihm ins Blickfeld geriet. Auch und gerade darüber gibt Pepys versessen Auskunft, gern und oft in einem teils koketten, teils verschämten Sprachgemisch aus Englisch (Deutsch), Französisch, Spanisch und Latein: „… die moher erat im Haus und mi venida erwartete. Sensa alguna Umstände willigte sie ein, dass wir monter los degres und uns comme jo es wünschte auf lo lectum legten und la cosa con viel voluptas taten. … Kurz darauf kam ihr marido und besprach mit uns, als sei nichts geschehen, sein Anliegen, das Kommando über das neue Schiff zu bekommen, was ich ihm verschaffen will.“
Nach jedem Fehltritt betet er, künftig ein besserer Mensch zu sein, ebenso wie er pflichtbewusst am Monatsende Gott für Gesundheit und die glückliche Mehrung seines Vermögens dankt. Wir beobachten ein frühbürgerliches Subjekt dabei, wie es sich im Spannungsfeld zwischen Moral, Konvention und eigenen Bedürfnissen positioniert und lebbare Freiräume schafft.
In England wurden die Tagebücher mit den ersten publizierten Entschlüsselungen um 1820 schnell zum Klassiker individueller Geschichtsschreibung. Eine verlässliche Gesamtausgabe jedoch entstand erst 1970. Hierzulande sind bei Reclam und Insel noch zwei weitere Auswahlbände lieferbar. Was diese dritte Ausgabe bei Eichborn aber so enorm reizvoll macht, ist dreierlei: die subjektive Auswahl mit deutlichem Schwerpunkt auf den detaillierten Schilderungen aus dem gar nicht so alltäglichen Alltag des Herrn Pepys; die schlanke, geschmeidige Übersetzung von Georg Deggerich; und die schöne Ausstattung mit Illustrationen aus dem Kreativpool der Neuen Frankfurter Schule.
Volker Kriegel, Zeichner, Jazzer und Autor, hatte diese Ausgabe angeregt und zu Teilen auch selbst noch umgesetzt, bevor er im Sommer 2003 unerwartet starb. Roger Willemsen hat das Projekt nun zu Ende gebracht und ein mitunter leicht verschwurbeltes, aber dennoch lesenswertes Nachwort beigesteuert. Freunde, Kollegen und Weggefährten Kriegels wie F. W. Bernstein, Robert Gernhardt, Michael Sowa und der leider ebenfalls zu früh gestorbene Bernd Pfarr sorgten für hinreißende Zeichenblätter, so dass dieses Buch nicht zuletzt auch ein rührendes, dabei gänzlich unsentimentales Memorial für Volker Kriegel geworden ist.
Samuel Pepys: „Die geheimen Tagebücher“. Hrsg. von Volker Kriegel und Roger Willemsen. Übersetzt und mit Anmerkungen von Georg Deggerich. Illustrationen u. a. von Bernstein, Gernhardt, Pfarr, Sowa und Waechter. Eichborn Berlin 2004, 416 S., 29,90 €