: Utopien erwünscht
Sie reisen im Schritttempo in Zirkuswagen. Sie spielen kritisches Theater in der Provinz. Und das seit 20 Jahren: Noch bis zum Sonntag feiert die Theatergruppe WildwuX ihr Jubiläum mit einem Festival im Skulpturenpark Kramelheide bei Bremerhaven
aus Beverstedt DIRK STROBEL
Ein frischer Wind bläst durch das kleine, blau-gelbe Zirkuszelt im Skulpturenpark Kramelheide. Im Halbkreis stehen weiße Zirkuswagen wie eine mittelalterliche Stadtmauer auf dem Platz, eine Gitarre klimpert in der Ferne. Gedämpfte Schreie dringen aus dem nahen Unterholz – die Teilnehmer des Workshops „Aktions-Theater“ proben für ihre Vorstellung. Besucher schlendern zwischen Teichen und verwilderten Wiesen umher. Sie lugen neugierig in die Küchen- und Schlafwagen des Lagers oder verweilen vor den Plastiken der Künstler.
Rückblende ins Jahr 1983: Der Bund Deutscher PfadfinderInnen (BDP) gründet im Zuge der Friedensbewegung sein Theaterprojekt „WildwuX“. Fernab von vielen Konventionen traditioneller Pfadfindergruppen entwickelte sich dieses schnell zu einem eigenständigen, die Elbe-Weser- Region kulturell und politisch bereichernden Projekt mit ökologisch-pazifistischer Prägung. „Zu Beginn fehlte uns der ganzheitliche Ansatz“, erläutert Jochen Hertrampf, 49, einer der Initiatoren von „WildwuX“, die anfänglichen Probleme. „Erst nach und nach entwickelte sich das heutige Konzept, die Lust am Theater in eine sinnvolle Kombination mit der politischen Kulturarbeit in ländlichen Gebieten und alten Gauklertraditionen in Einklang zu bringen.“
Das Motto von damals – „Macht die Provinz bunt und lebendig“ – hat weiterhin Bestand. Wie auch der Ansatz, die Kulturflucht vom Lande zu stoppen. Weiterhin treffen sich Jahr für Jahr Theater begeisterte und gesellschaftlich engagierte Jugendliche. Sie bereiten in monatelanger Wochenendarbeit den Treck vor, der dann für zwei Wochen von Dorf zu Dorf zieht. Dabei konzentrieren sie sich nicht nur auf das Thema oder die Dramaturgie des Stücks. In Eigenregie kümmern sich die zumeist unerfahrenen Darsteller mit Unterstützung des BDP auch um Organisation, Bühnenaufbau und Technik. Allerdings: „Es wird immer schwieriger, Jugendliche bei der extremen Reizüberflutung unserer Zeit für ein solches Konzept zu begeistern“, so Hertrampf. Das Programm der Gruppe empfindet er aber immer noch als zeitgemäß, spielt mit seinem löchrigen Strohhut und denkt in die Zukunft: „Wir könnten uns auch vorstellen, in Heißluftballons oder Binnenschiffen umherzureisen.“
Gelegentlich verschwimmen aber auch die Grenzen zwischen Schauspiel und Realität, wie während der Blütezeit der Anti-Atomkraft-Bewegung. In Gorleben agierten die WildwüXe zwischen den Fronten von aufgebrachten Demonstranten und den eingesetzten Hundertschaften. Sie sangen, tanzten und sorgten so für eine kurzzeitige Entspannung zwischen den Konfliktparteien. Doch die Konfrontation blieb nicht aus. „Bin ich jetzt Demonstrant oder Kulturschaffender?“, fragte sich damals Heiko Gerken, 34, der schon an vielen Sommer-Trecks teilgenommen hat. Als die ersten Molotowcocktails flogen und die Schlagstöcke kamen, erübrigte sich ohnehin weiteres Philosophieren.
Als bisheriger Höhepunkt gilt die fünfmonatige Europatournee, die 2001 durch Österreich, Italien, Slowenien, Tschechien, Ungarn und die Slowakei führte. Mit Eigenmitteln der Darsteller und natürlich im Zirkuswagen: Mit 25 km/h reisten sie an ICE-Trassen vorbei in den Osten.
Improvisation wird bei den Produktionen von „WildwuX“ immer noch großgeschrieben, Poptheater auch. Alle Schauspieler schlagen Texte vor und setzen eigene Ideen und Erfahrungen für einzelne Szenen um. So entsteht im Diskurs eine kuriose Mischung aus Theater, Musik, Jonglage, Akrobatik und Tanz. Hinterfragende und utopische Ansätze sind dabei – äußerst erwünscht.
Das WildwuX-Jubiläumsfestival im Skulpturenpark Kramelheide dauert noch bis zum 17.8. Am 15.8. um 21 Uhr findet der Varieté-Abend „Gute Unterhaltung“ statt, am 16.8. gibt es die WildwuX-Gala mit einem Best Of aus zwanzig Jahren (21 Uhr). Weitere Informationen unter www.wildwux.org