: Weltschmerz am Tankstellenshop
Road Novel vor der Horrorkulisse des deutschen Alltags: Thomas Klupps Debütroman „Paradiso“ inszeniert die Lebenskrise seines Erzählers am Rand der Autobahn
Alles super, eigentlich. Alex studiert an der Filmhochschule, außerdem hat er eine tolle Frau namens Johanna kennengelernt, mit der er am nächsten Tag in den Urlaub fliegen will. Jetzt muss er nur noch nach München kommen. Während er an einer Raststätte bei Potsdam auf eine Mitfahrgelegenheit wartet, hält neben ihm plötzlich ein ehemaliger Mitschüler: „Loserkonrad“ aus Weiden in der Oberpfalz, der mittlerweile einen Audi TT fährt und eine Pilotenbrille trägt. Alex zögert einen Moment, doch weil er sich sicher ist, dass seine Mittelschichtsjugend in der deutschen Provinz längst ein „abgeschlossenes Kapitel“ ist, steigt er ein. Kurz darauf rast er mit 180 Stundenkilometern mitten hinein in das schwarze Loch seiner Vergangenheit.
Thomas Klupp, Jahrgang 1977, hat mit „Paradiso“ auf den ersten Blick einen klassischen Debütroman geschrieben. Sein Erzähler ist mit Anfang zwanzig genau im richtigen Alter, um sich in die erste große Lebenskrise zu stürzen. Die Begegnung mit „Loserkonrad“ ist nur der Anfang. In einer Mischung aus Zynismus und Weltschmerz berichtet Alex von seinem „ersten Mal“ mit einer tschechischen Prostituierten, von seiner Hesse-Phase und der tief verwurzelten Angst, seine Schuppenflechte könnte ihn trotz „Dermatop“-Salbe „sozial ins totale Abseits drängen“. Diese und andere „unangenehmen Erinnerungen“ überfallen Alex am wüsten Rand der Autobahn, in Tankstellenshops und „Erotheken“, wo die spätadoleszenten Selbstzweifel wie einst in Christian Krachts „Faserland“ auf die Horrorkulissen des deutschen Alltags treffen.
Mitleid muss man mit Alex aber nicht haben. Nach und nach zeichnet sich unter der Oberfläche seiner amüsanten Hasstiraden gegen „Lehramtsstudenten“ und mexikanische Provinzkneipen das Bild eines dreisten Lügners und latenten Soziopathen ab. Unter anderem stellt sich heraus, dass Alex’ bester Kumpel aus den alten Zeiten aufgrund einiger hässlicher Vorkommnisse mittlerweile sein größter Feind sein dürfte, und von der ach so tollen Johanna, mit der er eigentlich in den Urlaub fliegen will, weiß die halbe Welt – nur seiner Freundin hat er ihre Existenz bisher verschwiegen: „Ich hatte mir die Sache im Idealfall als eine Abblende vorgestellt. So wie wenn im Kino das Bild langsam ins Schwarz gefahren wird.“ Die Geschichte läuft dann eher auf einen Filmriss und eine Schlägerei hinaus.
Das Spiel mit der Figur des unzuverlässigen Erzählers ist gut gemacht, und damit hebt sich „Paradiso“ von der breiten Masse der Midtwenties-Breakdown-Romane deutlich ab. Thomas Klupp, der sein Schriftstellerdiplom in Hildesheim gemacht hat, lässt nicht nur den Gefühlen seines Protagonisten freien Lauf, sondern setzt darüber hinaus trendgerecht auf Handwerk und Technik. Man muss die Literatur nicht neu erfinden, sondern in erster Linie anständig schreiben: Das ist das Credo, mit dem die deutschen Creative-Writing-Schulen seit den Neunzigerjahren ihre Absolventen entlassen. „Paradiso“ ist nicht nur ein gutes Beispiel dafür, dass die Produkte, die auf diese Art entstehen, mittlerweile ziemlich ausgereift sind. Es ist sogar noch Platz für ein bisschen Selbstironie. Alex hat nämlich immer ein paar handfeste Ratschläge aus seinem letzten Drehbuchseminar zur Hand. Und damit kommt dieser freche Hund zuletzt sogar durch. KOLJA MENSING
Thomas Klupp: „Paradiso“. Berlin Verlag, Berlin 2008, 199 Seiten, 18 Euro