Erinnerungsarbeiter

Der Feuilleton-Sommer ist mal wieder voller Jahrestage. Wo soll diese anschwellende Gedenkkultur noch enden?

Die vergangene Woche war eine recht schöne, es gab schließlich viel zu feiern: Den 70. Geburtstag von Giorgio Armani, den 100. Geburtstag von Pablo Neruda, den 100. Geburtstag von Isaac B. Singer, den 100. Todestag von Anton Tschechow, den 60. Geburtstag von Jörg Fauser, der nahtlos überging in seinen 17. Todestag, den 70. Geburtstag von Rainer Kirsch, den 100. Geburtstag von Rudolf Arnheim, den 140. Geburtstag von Ricarda Huch und, nicht zu vergessen, den 50. Todestag von Frida Kahlo.

Selbstredend war es eine mehr als anstrengende Woche, denn Geburts- und Todestage zu feiern heißt nicht immer nur Freude und schönes Gedenken, sondern auch viel Arbeit und emotionaler Stress: die ganzen Vorbereitungen, die viele Aufregung. Gut, dass wenigstens das Aufräumen bei uns in den Medien so schnell geht.

Zum Verschnaufen jedoch besteht überhaupt keine Zeit: Diese Woche steht das Jubiläum von Uwe Johnson an, der morgen 70 Jahre alt geworden wäre, jährt sich das missglückte Attentat auf Hitler zum sechzigsten und der Beginn des Ersten Weltkrieges zum neunzigsten Mal. Und mehr: Diese Woche ist Isaac B. Singer 13 Jahre tot, wurde Elias Canetti vor 99 Jahren geboren, wäre Oskar Maria Graf 120 Jahre alt geworden, ja, und dann steht kommende Woche schon der 200. Geburtstag von Ludwig Feuerbach an.

Man ertappt sich des Öfteren dabei, ein Ende der Feierlichkeiten herbeizusehnen oder sich zu fragen: Hört das denn nie auf? Oder ist diese Häufung wichtiger Gedenktermine, das Anschwellen der Gedenkkultur jetzt einfach nur Zufall? Oder ist das Sommerloch dafür verantwortlich? Passiert denn sonst so gar nichts, beispielsweise in der zeitgenössischen Literatur? Sicher ist es wichtig, sich immer mal wieder der Vergangenheit zu gegenwärtigen, aus ihr zu lernen und sich mit ihr gewissermaßen fit zu machen für die Zukunft. Und doch entsteht bisweilen der Eindruck einer gewissen Erstarrung. Da werden viele bedeutende Künstler und Künstlerinnen oder eben historische Ereignisse für einen Tag der Vergessenheit entrissen, nur um sie danach noch kompletter wieder zu vergessen: Es folgt schließlich ein oder zwei Tage später schon wieder ein immens wichtiges Jubiläum.

Keine Atempause, Gedenken, immer Gedenken – nur wieder lebendig wird damit noch lange nichts. Denn ob ein Ereignis oder die Kunst einer Person für die Nachwelt prägend sind oder tiefer nachwirken, hängt eben nicht von Tagesfeierlichkeiten ab. So ein Prozess muss sich entfalten, der braucht Zeit. Auch kann man davon ausgehen, dass es nicht die vielen Weltkrieg-II-Jubiläen waren, die viele Schriftsteller dazu motivierten, sich den Verstrickungen der eigenen Familie in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zu widmen, Familienromane zu schreiben oder, so zweifelhaft und diffizil das sein mag, sich auch mit dem Leid der Deutschen in und nach dieser Zeit zu beschäftigen.

Für die Literatur gilt, was der 1932 in der Bukowina geborene und heute in Jerusalem lebende Autor Aharon Appelfeld einmal so formuliert hat: „Literatur ist aktuelle und akute Gegenwart, nicht im journalistischen Sinne, sondern in ihrem Streben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewusstsein zusammenzuführen.“ GERRIT BARTELS