Ein Gott mit Prothese

Der Trick des Produzenten: Als vor 50 Jahren die erste Single von Elvis Presley erschien, ward nicht nur der Rock ‘n‘ Roll geboren. Von nun an sollte die Musik nicht mehr nur das sein, was die Musiker spielten. Sondern das, was sie im Studio aufnahmen

Das wabbelige Echo wurde zu einem Markenzeichen des jungen Genres

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Es ist eine der Urszenen des Rock ’n’ Roll: Im August 1953, an einem heißen Samstag, betritt ein etwas unsicherer junger Mann mit einer billigen Gitarre unter dem Arm das Studio von Sun Records in Memphis. Er will seine erste Platte aufnehmen. Sein Name: Elvis Presley. „I just wanted to hear what it sounded like“, erzählte er später in einem Interview.

Die Anekdote ist ein passender Beginn für die einmalige Karriere eines Sängers, der wie kein anderer Star zuvor Produkt der Massenmedien war. Es ist viel darüber geschrieben worden, wie Elvis erst durch Radio, Fernsehen und Kino zum Star wurde. Die Plattenfirma RCA, bei der Elvis 1955 einen Vertrag unterschrieb, gehörte der Fernsehsender NBC, der von nun an regelmäßig Auftritte von Presley zeigte. Die Aufnahmen, die Elvis bei seinen Auftritten in der Fernsehsendung „Ed Sullivan Show“ vor hysterisch kreischenden Fans zeigen, sind zu Inkunabeln der Musikgeschichte geworden. Als Künstler ist Elvis ein Medienphänomen.

Weit weniger bekannt ist, dass Elvis auch bei seinen ersten professionellen Aufnahmen im Studio von Sam Phillips auf einige der aktuellsten, technischen Entwicklungen der Fünfzigerjahre zurückgreifen konnte. Phillips verwendeten bei den Aufnahme-Sessions neue Medientechnologien, mit deren ästhetischen Möglichkeiten zu dieser Zeit gerade in vielen Studios experimentiert wurde. Es handelt sich um zwei Tonbänder, mit denen Sam Phillips Echoeffekte erzeugte – Mitte der Fünfziger waren Tonbänder die neueste Entwicklung in der Aufzeichnungstechnologie und erst seit wenigen Jahren im Handel.

Die Entstehung des Rock ’n’ Roll, als die die „Sun Sessions“ heute vielen Fans gelten, wäre ohne diese Medientechnik nicht möglich gewesen. Sie haben das hervorgebracht, was man heute als den „Sound“ des Rock ’n’ Roll kennt. Als am 19. Juli 1954, also genau vor 50 Jahren, mit „That’s Allright, Mama“ Elvis’ erste Single erschien, kam nicht nur der Rock ’n’ Roll zur Welt. Auch der Tonbandeffekt, mit dem Sam Phillips Elvis’ Stimme bearbeitet hatte, wurde mit ihm zum ersten Mal in die Hitparaden der amerikanischen Südstaaten katapultiert.

Freuds schöner Ausdruck vom „Prothesengott“ trifft es ziemlich gut: Bei seinen ersten Aufnahmen war Elvis ein vollkommen unerfahrener Sänger, der nie live aufgetreten war und keinerlei Erfahrung mit Studioaufnahmen hatte. Er entwickelte aus der Auseinandersetzung mit dem Tonbandecho den speziellen Gesangsstil, mit dem er in den folgenden Jahren zum Weltstar wurde. Auch wenn es zu weit gehen würde, den Erfolg von Elvis ausschließlich auf diese neuen Medientechnologien zurückzuführen, so ist es umgekehrt genauso schwer vorstellbar, dass Elvis ohne mediale Hilfsmittel so schnell zu einem eigenen Sound gefunden hätte.

Die Aufnahmen, die Elvis nach langem Warten am 5. Juli 1954 in Phillips’ Studio einspielte, sind zu einer Legende geworden. Die „Sun Sessions“ waren die ersten professionellen Aufnahmen des damals gerade 19-jährigen Elvis Presley. Sie sind ein Stück Americana, das den Ausgangspunkt für die Rockrevolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildet. Jahrzehntelang waren diese Aufnahmen nur auszugsweise auf illegalen Bootlegs zu hören, sodass der Mythenbildung freien Lauf gelassen werden konnte. Erst nach Elvis’ Tod erschienen die „Complete Sun Sessions“ auf einer Doppel-LP und boten sich der kritischen Betrachtung seiner Fans an.

Wenn man der Geschichtsschreibung so illustrer Autoren wie Greil Marcus, Peter Guralnick, Albert Goldman oder Dave Marsh glauben will, hat die Session mit Elvis zuerst keinen Erfolg versprechenden Eindruck gemacht. Zusammen mit dem Gitarristen Scotty Moore und dem Bassisten Bill Black war Elvis am Abend des 6. Juli 1954 in Sam Phillips’ Studio gekommen, um ein Stück aufzunehmen. Als sie zu proben begannen, wussten die Musiker nicht einmal, welchen Song sie einspielen würden. Elvis mit seiner Vorliebe für langsame Rührstücke hatte die Ballade „I love you because“ vorgeschlagen, und an diesem Song arbeitete sich das Trio einige Stunden ab. Die Aufnahmen ihrer Versuche sind erhalten geblieben, und sie sind nicht gut. Das Tempo schleppt sich dahin, Elvis manövriert sich mit schwankender Stimme durch die Melodie. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen machten die Musiker eine Pause.

Während alle eine Cola tranken, fing Elvis an, das Stück „That’s Allright, Mama“ des schwarzen Bluessängers Arthur Crudup zu klimpern, wahrscheinlich um die gedrückte Stimmung aufzuheitern: „Elvis fing einfach an herumzualbern“, erinnert sich Scotty Moore später. „Ich spielte mit, sobald ich herausgefunden hatte, in welcher Tonart er war. Dann öffnete sich die Tür zum Kontrollraum. Sam fragte: ‚Was spielt ihr denn da?‘ Elvis antwortete: ‚Ich weiß nicht – wir blödeln nur.‘ Sam sagte: ‚Hm, das klingt ziemlich gut. Versucht rauszufinden, was ihr da spielt, und dann nehmen wir’s auf.‘ Es war keine große Angelegenheit.“

Der entscheidende Unterschied zu den vorangegangenen Aufnahmen ist Elvis’ Gesang. Er klingt – wie soll man es beschreiben? Klarer? Dichter? Rhythmischer? Ja, das auch, aber vor allem klingt er professioneller – wie eine richtige Schallplattenaufnahme, nicht mehr wie ein Amateur, der vor sich hin singt. Elvis verdankte das dem Tape-Echo-Effekt von Sam Phillips. Dieser Effekt war die geheime Zutat, die aus einem Song eine Sun-Single machte. Er hat den Sun-Sound genauso geprägt wie die Fusion von afroamerikanischen Rhythm and Blues und weißer Hillbilly-Musik, die Elvis in dieser Session einleitete: ein Echo-Effekt, den er mithilfe von zwei Tonbändern erreichte.

Nachdem Sam Phillips mit der Aufnahme zufrieden war, spielte er den endgültigen Take mit dem ersten Tonbandgerät ab, hatte das Band aber vorher durch ein zweites Tonbandgerät gefädelt, das die ursprüngliche Aufnahme mit einer minimalen Zeitverzögerung wiedergab. Diese beiden leicht versetzten Signale nahm Phillips zusammen auf. So entstand ein zischender, schrittweise auslaufenden Effekt, der als der slapback sound bekannt wurde. Da es zu dieser Zeit noch keine Mehrspuraufnahme-Technik gab, mit der man verschiedene Spuren sauber trennen konnte, waren alle Gesangsstimmen und Instrumente auf demselben Band, und daher wurde auch der gesamte Sound mit dem Effekt verfremdet.

Es ist faszinierend, wie unterschiedlich das Tape-Echo auf die verschiedenen Instrumente wirkt: Die Gitarre klingt gleichzeitig verschwommener und reiner. Bill Black am Kontrabass benutzt eine Pizzicato-Technik, das so genannte Slapping, bei dem er die Seiten so stark zupft, dass sie auf das Griffbrett schlagen und so ein zusätzliches Klatschen erzeugen. Durch den Echoeffekt klingt der Bass plötzlich wie ein gestimmtes Percussionsinstrument und lässt fast vergessen, dass dieses frühe Rock-’n’-Roll-Stück ohne Schlagzeug aufgenommen wurde.

Aber am verblüffendsten ist die Wirkung auf Elvis’ Stimme: Sie bekommt eine merkwürdig jenseitige Qualität, als sänge er aus dem Elysium. Bei der nächsten Aufnahme, dem Song „Blue Moon of Kentucky“, beginnt Elvis bereits mit dem Effekt zu spielen: Er gluckst die ersten Silben mit der „Schluckauf-Phrasierung“, für die er bekannt geworden ist, um die Echowirkung zu steigern. Und aus dem Lastwagenfahrer Elvis Presley aus Memphis war der Elvis geworden, den wir kennen.

Der Legende nach gab Sam Phillips die Aufnahme von „That’s Allright, Mama“ bereits am nächsten Tag dem DJ Dewey Phillips. Der spielte sie in seiner Radioshow „Red Hot and Blue“, die vor allem bei Teenagern sehr beliebt war, und der Sender soll von Anrufern überflutet worden sein, die wissen wollten, was das gerade für ein Song gewesen war. „In dieser Nacht leuchtete die Schalttafel der Telefonzentrale auf wie ein Weihnachtsbaum“, schreibt Albert Goldmann in seiner Elvis-Biografie.

Bei seinen ersten Aufnahmen stand Elvis die neueste Technik zur Seite

Als die Gruppe auf der Bühne versuchte, den Sound ihrer Platten zu reproduzieren, wurde das Fehlen des Echos bemerkt. Um den Studiosound live reproduzieren zu können, kaufte Gitarrist Scotty Moore sich einen Gitarrenverstärker, der mithilfe eines eingebauten Tonbands den Tape-Echo-Effekt auf der Bühne reproduzierte. Das Leben versuchte, die (Medien-)Kunst zu imitieren.

Anderthalb Jahre nach den Sun Sessions verkaufte Sam Phillips den Vertrag von Elvis an die Plattenfirma RCA, und Elvis’ internationale Karriere nahm ihren Lauf. Sein erster Hit für die neue Plattenfirma war „Heartbreak Hotel“. Für die Aufnahme des Songs wollte die Plattenfirma nicht nur Elvis, sondern auch sein Echo auf der Platte haben. Die Toningenieure der Firma rätselten, wie Sam Phillips sein Slapback-Echo produziert hatte. Schließlich leitete der Tonmeister Bob Ferris Elvis’ Gesang zu einem Lautsprecher im Flur, der Klang wurde an dessen anderen Ende mit Raumhall wieder aufgenommen. Fünf Wochen später kam der Titel in die Charts und wurde Elvis’ erster nationaler Nummer-1-Hit.

Sam Phillips jagte unterdessen die Stimmen von seinen anderen Künstlern Carl Perkins, Johnny Cash und Jerry Lee Lewis durch seine Echokammer aus Magnetband. Die Produzenten von aspirierenden Elvis-Nachfolgern wie Eddie Cochran oder Gene Vincent kopierten den Trick und machten das wabbelige Echo zu dem Markenzeichen des jungen Rock-’n’-Roll-Genres.

Das Tape-Echo aus dem Sun Studio steht am Anfang einer musikalischen Entwicklung, in der Musik nicht mehr das ist, was Musiker gemeinsam spielen, sondern das, was sie gemeinsam aufgenommen haben. Bei der Rockmusik, die auf die Sun Sessions folgt, verschwindet der Unterschied zwischen dem musikalischen Werk und seiner Aufnahme. Der amerikanische Philosophieprofessor Theodore Gracyk hat Rock darum als Musik definiert, „die paradigmatisch als aufgenommene Musik existiert“. Das ist ironisch, denn bis heute gilt Rock ’n‘ Roll eigentlich als „authentische“, unverfälschte Mucke; als die Musik des echten Schweißes und des authentischen Brüllens. Wenn man heute die rauschenden, knackenden Aufnahmen aus dem Sun Studio von 1954 hört, fällt es schwer zu glauben, dass dieser Sound technologisch manipuliert ist.

Sam Phillips hatte dabei mit Maschinen gearbeitet, die absolut state of the art waren. Das verbindet ihn mit den Bedroom-Producern, die heute am Computer elektronische Tracks zusammenbasteln. So haben die Tape-Echos mehr erreicht, als die Fusion von Country und Rhythm and Blues zu Rock ’n’ Roll geschmeidiger erscheinen zu lassen.

Sie veredelten nicht nur den Gesang von Elvis in „Blue Moon“ zu einem Belcanto aus der Maschine und verlängerten das ekstatische Kicksen von Jerry Lewis in „Great Balls of Fire“ mit einem übernatürlichen Echo. Sie stehen am Anfang einer Entwicklung, bei der Aufzeichnungsmedien beim Musikmachen eine zentrale Rolle einzunehmen und der Musik peu à peu ihre eigene Logik einzuschreiben beginnen.