: Die Lust am eigenen Leid
Die deutschen Täter und ihre Nachfahren wollen endlich Teil der globalen Opfergemeinde sein. Dazu klinken sie sich in den internationalen Versöhnungsdiskurs ein
Die Botschaft des französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch war eindeutig: Nein zur Versöhnung zwischen Juden und Deutschen, Nein zum Verzeihen, Nein zur Wiedergutmachung, Nein zur Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust. In seinem 1971 erschienen Essay über das Verzeihen bestreitet er, dass die Deutschen ihre Taten je bereuten. Sein Text lässt sich gerade heute als Einspruch lesen gegen den globalen Trend der Versöhnung, gegen die Wahrheits- und Historikerkommissionen, gegen die Mahnmale und Ausstellungen, die Holocaust, Völkermord oder Vertreibung so bequem ins kollektive Bewusstsein integrieren.
Denn er hatte schon frühzeitig erkannt, wie die Deutschen versuchen, sich selbst in einer Opferrolle zu präsentieren und wie sie in Verfolgung dieser Obsession mit immer neuen Vorstößen die Welt in Atem halten: „Das Resultat dieser Vergleiche lässt nicht auf sich warten: Nach einer gewissen Zeit weiß niemand mehr, worum es sich handelt. Was offensichtlich das angestrebte Ziel war.“
Um Jankélévitchs Essay zu diskutieren, der jetzt bei Suhrkamp neu aufgelegt wurde, waren die Autoren dieses Beitrages nach Peenemünde eingeladen – im Rahmenprogramm zur Wehrmachtsausstellung unter dem Titel „Die deutsche Reue heißt … Stalingrad. Kein Vergleichen, kein Verzeihen, nichts wieder gutzumachen. Die Versöhnungsverweigerung des Philosophen Vladimir Jankélévitch“.
Nur: Ausgerechnet das offizielle Rahmenprogramm der Wehrmachtsausstellung in Peenemünde ist Teil des von Jankélévitch befürchteten Versöhnungstrends. So wie Guido Knopp in seinen Doku-Soaps Hitlerjungen und Wehrmachtssoldaten als „Überlebende des Zweiten Weltkrieges“ neben Überlebenden des Holocaust zu Wort kommen lässt und jeden Reichsjugendführer zum „Zeitzeugen“ adelt, so stehen in diesem Programm Vorträge über den Holocaust neben Stalingraderinnerungen und Referate über Zwangsarbeit neben Gedenkveranstaltungen für Soldaten und Zivilisten, die bei alliierten Luftangriffen ums Leben kamen. Diese Inszenierung wird ihren dramaturgischen Höhepunkt am 18. August erreichen: Anlässlich des 60. Jahrestags des britischen Angriffs auf die Nazi-Raketenschmiede werden die Glocken von Peenemünde die Besucher der Wehrmachtsausstellung zur Teilnahme an einer „Andacht zum Bombenangriff“ einladen und auch Nazigruppen dort ihre Kränze niederlegen.
Die Autoren fanden, dass es angesichts dieser Gleichsetzung von Opfern und Tätern nichts zu diskutieren gibt – und haben daher ihre Teilnahme abgesagt. „Allein die Idee, das Pro und Contra einander gegenüberzustellen, hat hier etwas Schändliches“, notierte zu Recht schon Jankélévitch vor mehr als 30 Jahren.
Dabei waren die Deutschen damals noch lange nicht so selbstbewusst wie heute. Flucht & Vertreibung, Bombennächte & Evakuierung dominierten zwar vom 9. Mai 1945 an in West und Ost die Familienerzählungen, aber politische Forderungen an die Siegermächte nach einer Art Wiedergutmachung an den Deutschen wurden daraus noch nicht abgeleitet. Solche Vorsicht war nicht einfach der Staatsräson geschuldet und erst recht nicht einer Rücksicht auf die Opfer des Holocaust: „Wenn Deutschland eine andere Miene aufgesetzt zu haben scheint“, schreibt Jankélévitch 1971, „dann weil es in Stalingrad zu Tode geprügelt worden ist, weil die Russen Berlin eingenommen haben und weil die Alliierten in der Normandie gelandet sind …“. Die einzige deutsche Reue sei daher eine „militärische Reue“. Nur diese Niederlage ist der wahre Grund, warum der Mord an den Juden sein Ende gefunden hat.
Die heutige deutsche Vergangenheitsbewältigung neuen Typs, die auf einer abstrakten Schuldanerkenntnis basiert, wurde erst durch eine internationale Entwicklung möglich, in der der Holocaust zum „Archetyp“ des Bösen wurde, zu einer allgemeinen Metapher für Gewalt und schließlich zum master- narrative für jede Geschichte, die mit Opfern und Tätern zu tun hat. Das Erinnern des Holocaust wurde durch diesen Diskurs universalisiert. Der transnationale Diskurs bestimmt zum einen Bedeutung und Profil des gesamteuropäischen Gedächtnisraumes, zum anderen die Teilnahme an der westlichen menschenrechtlichen Wertegemeinschaft. Und nicht nur in Deutschland heißt es jetzt, dass der Holocaust „nicht nur eine deutsche Urheberschaft“ habe, sondern auch eine „europäische Dimension“.
Spätestens 1990 begann man in Deutschland zu begreifen, dass man sich auf diese veränderte Wahrnehmung des Holocaust beziehen muss und auch mit Gewinn beziehen kann. Statt nur monoton immer wieder einen Schlussstrich zu verlangen, begann man sehr eigenwillige deutsche Lehren aus dem Holocaust zu ziehen und dabei stolz auf den Standortvorteil zu verweisen. Kein Tag vergeht seither, an dem nicht über deutsche Opfer, deutsches Leid zu lesen ist. Nicht um Täter geht es, sondern um Opfer. Und die ultimativen Täter wollen Teil der globalen Opfergemeinde von Vertriebenen und Verbrannten sein. Opfer werden als Opfer aus der Geschichte herausgenommen, Tat und Untat damit verschleiert.
Die „Vermenschlichung“ des Opfers lässt keine historischen Zusammenhänge mehr zu. Die Ausgrenzung spezifischer historischer Ereignisse und ihre Einbettung in das „moralische“ Weltbild einer sich global verstehenden Geschichte macht eine neue nationale Apologetik möglich. „Opa ist in Ordnung“ ist wohl eine der Konsequenzen davon. Die letzte Welle der Vertriebenendebatte zeigt dann auch: Es geht ihnen um die „deutsche Katastrophe“ allein.
Dass der Nationalsozialismus nun langsam historisiert werde und damit auch „Frageverbote“ fielen, wenn es etwa um das Leiden der Deutschen gehe, das „wird sich nicht verhindern lassen“. So der Verantwortliche für die Wehrmachtsausstellung vom Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), Peter Klein, gegenüber der taz am 5. 8.
In der Tat: Um sich die Deutschen als „Opfer“ des von ihnen selbst initiierten, antisemitisch motivierten Angriffskrieges vorzustellen, muss man die eigentlichen Opfer der Deutschen erneut stigmatisieren – als Menschen, die angeblich die Macht haben, „Frageverbote“ zu verhängen. Frageverbote? Wir fragen uns, welche gefallen sind?
Es gehört sich heutzutage nicht, sich gegen das Versöhnen zu stellen. Das Leiden der Menschen ist nun universales Gut, und damit wird „Versöhnung“ zum Gebot der Stunde. Hätten wir unsere Kritik in Peenemünde zur Diskussion gestellt, wäre dort und im Hamburger HIS die Welt in Ordnung gewesen. Zur „Bombenkriegsdebatte“ sind auch kritische Kommentare zugelassen, solange sie dazu beitragen, die Legitimität dieser Normalisierungsstrategie zu bestätigen. Wirklich übel genommen hat man uns daher auch nicht die Kritik, sondern die Absage der Debatte. „Sich sofort abrupt abzuwenden, ist ein falscher Ansatz“, meinte Peter Klein vom HIS gegenüber der taz. Und weist damit die Versöhnungsverweigerung von Vladimir Jankélévitch zurück. Doch in dem Zusammenprall deutscher und jüdischer Erinnerungen bleibt nur die Unüberbrückbarkeit dieser Narrative zurück.
NATAN SZNAIDER
GÜNTHER JACOB