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Archiv-Artikel

Kreuzfideler Kummerkasten

Ina Biermann arbeitet als Sexualpädagogin mit Jugendlichen und lebt als dreifache Mutter in Holland. Am Wochenende legt sie als Dee-Jane Platten auf

Am Wochenende schläft Ina Biermann freilich weniger als andere Mütter Wir wollen die Leute nicht nur pushen, sondern die Musik fließen lassen

AUS AACHEN LUTZ DEBUS

„Was ist Arschficken? Tut das weh? Haben Sie das schon mal gemacht?“ Das sind ziemlich eindeutige Fragen für einen Montag Morgen. Das neugierige Bombardement der Jugendlichen gilt Ina Biermann – die Sexualpädagogin bei Pro Familia antwortet souverän alle Fragezeichen. Erklärt den Mädchen die anatomischen Details. Alle werden ernst genommen, niemand wird dazu gezwungen, Persönliches zu erzählen. Auch Ina Biermann nicht.

Dabei lebt Ina Biermann ein ungewöhnlich interessantes Leben. Sie ist eine Grenzgängerin, lebt mit Mann, ihren drei Kindern und dem Hund in einem alten Haus in einem niederländischen Städtchen bei Aachen. Zur Arbeit fährt sie täglich in die große deutsche Stadt. Wohnraum ist in der Provinz Limburg günstiger, die Löhne in der nahen Bischoffstadt verhältnismäßig hoch. Viele Deutsche sind ins Nachbarland emigriert, kommen nur noch in ihre alte Heimat, um dort ihr Geld zu verdienen. Und dort bei Pro Familia Aachen leitet Biermann Seminare für Jugendliche, Schulklassen und Gruppen zu vielen Themen rund um Liebe, Sexualität und Verhütung.

Am Montagmorgen leistet der “Grabbelsack“ bei den Mädchen einer 9. Hauptschulklasse wieder vorzügliche Dienste. In ihm befinden sich viele Gegenstände, die irgend etwas mit dem Thema Sexualität zu tun haben: Kondome, Schnuller, Unterwäsche, Tampons.

Jede Teilnehmerin muss dann in den Sack zu greifen, soll versuchen einen Gegenstand zu ertasten, den dann auszupacken und dazu eine Geschichte zu erzählen. Dabei wird viel gekichert. Das Spielerische nimmt dem Thema den sonst so verbreiteten antiseptischen Charakter. Weil die Jungs in einem anderen Raum mit einem Kollegen beschäftigt sind, können viele Mädchen offen über ihre Fragen und Probleme reden. Und anhand der erzählten Geschichten kann Ina Biermann viel über selbstbestimmte Sexualität und Schwangerschaftsverhütung vermitteln.

Es geht also nicht nur um einen netten Vormittag fernab des zuweilen öden Schulalltags. In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangenen Jahr knapp 1.500 Abtreibungen bei Minderjährigen durchgeführt, davon 146 bei Mädchen, die keine 15 Jahre alt waren. Die präventive Arbeit der Sexpäds, so werden die Sexualpädagogen intern bei Pro Familia genannt, empfindet Ina Biermann als sehr wichtig.

Gegen Mittag eilt Ina Biermann wieder über die Grenze, kauft schnell im nächsten Supermarkt ein, holt die kleinen Kinder aus dem Kinderladen, fährt sie zum Turnen, zur Musikschule, zum Kindertreff. Die ganz normale Doppelbelastung berufstätiger Mütter. Doch am Wochenende schläft diese Mutter weniger als andere Mütter.

Dann geht es wieder über die Grenze nach Aachen. Am Freitag legt Ina Biermann mit ihrer Freundin von 21 bis 6 Uhr Platten auf, am Samstag von 21 bis 4 Uhr. „The Pearls“ nennen sich die beiden Dee-Janes. In den Elysee-Palast zu Aachen passen etwa 1000 Leute. Zu der Party der Pearls kommen überwiegend Menschen zwischen 35 und 45: Bifis und Uhus, Bisvierziger und Unterhunderter.

Weibliche Discjockeys gibt es nicht sehr oft in der Clubszene. Noch immer ist der Plattenteller eher eine Männerdomäne. Ina Biermann glaubt, dass die Perlen anders Platten auflegen als ihre männlichen Kollegen. „Wir wollen die Leute nicht nur pushen, sondern die Musik in Wellen fließen lassen.“ Bei der Musikauswahl orientieren sich die beiden Frauen an „vier Elementen“. Luft steht bei ihnen für den leichten, aber auch „coolen Sound“. Da passt schon mal House. Zur „Erde“ gehört afrikanische Musik oder auch guter Rock. Für das Element „Wasser“ haben die beiden Frauen Lounge-und NuJazz vorrätig. Und dann gibt es noch funky-funky Feuer. Festlegen lassen sie sich aber nicht. Wichtig ist es, zu spüren, welche Musik gerade gebraucht wird.

Eine Frau beobachtet die Tanzfläche, die andere sorgt für die Technik. Am frühen Sonntagmorgen spielen die Pearls ihren Abschiedshit „Closing Time“. Dann wollen sie zusammen packen. Auf der Tanzfläche stehen noch ein Dutzend Leute herum, fordern lautstark Zugaben. Als allerletztes Stück legen die Dee-Janes dann einen Walzer von Johann Strauß auf. In der Mitte eines großen Saales drehen sich die Paare und die Pearls tanzen mit. Diese Momente findet Ina Biermann sehr berührend. Sie zeigen ihr, dass sie auch hier die Menschen erreicht und bewegt. Ansonsten fühlen sich die beiden Frauen hinter ihrer Anlage oft einsam.

Hat die eine Welt etwas mit der anderen zu tun? Sozialpädagogin bei Pro Familia und Dee-Jane im Tanzpalast? Der Begriff „Kummerkasten“ spielt irgendwie eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Morgens wird sie von den Mädchen interviewt, wie man erkennt, wer der „Richtige“ ist. Einen Abend später erzählt ihr eine Party-Besucherin ihr ganzes Leben samt Trennungsproblemen, während Ina Biermann Platten auflegt. Ihre Beratungstätigkeit führt sie manchmal eher unfreiwillig fort.

Im Grunde hat sie sich zwei völlig verschiedene berufliche Existenzen aufgebaut. Das ergab sich zwangsläufig, um Berufstätigkeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. Ihr Ehemann ist Ingenieur, muss am Wochenende nicht arbeiten und kümmert sich am nächsten Morgen um die Kinder, damit sie ausschlafen kann.

Was weiß Ina Biermann noch zu berichten? Sie erzählt von einem Urlaub mit ihrem Vater in Italien. Sie war gerade zehn Jahre alt. Der Vater holte sich beim Baden im Hafenbecken eine Infektion, starb an einer Sepsis in einem recht schäbigen Krankenhaus. Tagelang war sie allein in dem fremden Land, dessen Sprache sie nicht kannte, bis ihre Mutter sie endlich abholte. Dann kramt sie noch eine Geschichte hervor, erzählt sie nur so nebenbei.

Die Familie der Mutter hieß Raphaelshon. Als Ina Biermanns Mutter 1933 geboren wurde, hielten es deren Eltern für ratsam, das zweite H bei dem Ausfüllen des Formulars im Familiennamen zu unterschlagen. Raphaelson klang nicht ganz so jüdisch, eher schwedisch. Ina Biermanns Großvater war ein christlich getaufter Jude, ein strammer Deutschnationaler, Veteran des Ersten Weltkrieges, überzeugter Anhänger von Hitler. Aber all das half ihm nichts. 1945 wurde er im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Dies bekam Ina Biermann erst erzählt, als sie als Fünfzehnjährige in den Aktenordnern der Mutter ein Schreiben fand, in dem die beantragte Wiedergutmachung in Höhe von einmalig 500 DM behördlicherseits anerkannt wurde.

Passen all die Geschichten zusammen? KZ und Disco, Pro Familia und die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland, eine Mutter, der ein Buchstabe fehlt und eine Tochter, der ein Vater fehlt. Ina Biermann sieht ihr Leben wie die Glieder einer Kette. Alles gehört irgendwie zusammen, obwohl es manchmal schwer zu ertragen ist.