: Denn sie wissen, was sie tun
Eine 16-Jährige sorgt mit ihrem Sextagebuch für Wirbel, Regisseur Larry Clark zeigt in seinem neuen Film „Ken Park“ Jugendliche in allen Stellungen: Auch die Teens sind in der sexgierigen Medienindustrie angekommen. Und wo ist der Skandal?
VON MARTIN REICHERT
„Was ist denn schon dabei, dass eine Frau darüber schreibt, dass sie Sex hat?“, sagt ausgerechnet Melissa Panarello. Die gebürtige Sizilianerin ist gerade 18 Jahre alt geworden und steht in 25 Ländern auf den Bestsellerlisten. „Mit geschlossenen Augen“ lautet der Titel ihres jetzt auch in Deutschland erschienenen Debütromans, in dem sie detailliert Auskunft über ihr Sexleben als 15-Jährige erteilt. Es handelt sich um ein 160 Seiten umfassendes erotisches Tagebuch, in dem sie nichts auslässt: Sex mit Klassenkameraden, hässlichen älteren Männern, Punks, Frauen, Schwulen, Transvestiten. Sie peitscht einen Familienvater aus, befriedigt an ihrem 16. Geburtstag hintereinander fünf Männer und bekennt, masochistisch veranlagt zu sein.
Selbstverständlich schreiben Frauen mittlerweile über Sex, selbstverständlich ist dem Publikum das sexuelle Leben der Catherine Millet zur Genüge bekannt (siehe Kasten). Die eiskalten Beschreibungen von Gruppensexorgien beruhen jedoch auf den Erfahrungen einer reifen Frau, nicht auf denen eines Teenagers. Panarellos erotische Bekenntnisse haben entsprechende Sprengkraft entwickelt: „Wie schamlos darf eine 16-Jährige sein?“, fragte Bild entrüstet, nicht ohne Auszüge des Tagebuchs abzudrucken. Die Bunte fragt die Nachwuchsautorin, ob es ihr nicht peinlich gewesen sei, so schamlos über ihre Abenteuer zu schreiben, und präsentiert sie per Foto als „Unschuldsgesicht mit wüster Vergangenheit“, sich lasziv auf einem Sessel räkelnd. Die Gesellschaft ist so schockiert und entrüstet, dass die Verlage mit dem Drucken nicht mehr hinterherkommen.
Es ist eben schon etwas daran, wenn ein junges Mädchen beschreibt, wie sie sich „die Hörner abstößt“, eine Lebensphase, die man jungen Männern für gewöhnlich zugesteht, während Frauen sich bis heute schwer tun, eine auf reine Triebbefriedung ausgerichtete Sexualität zu leben. War dies bislang Männern, insbesondere homosexuellen Männern, vorbehalten, zeigt nun Melissa Panarello, dass Promiskuität auch für Frauen eine Möglichkeit darstellt, und zwar ohne den Beigeschmack des Pathologischen. Panarello begreift sich weder als Nymphomanin noch als Borderline-Betroffene. Sie beschreibt nicht die selbstzerstörerische Promiskuität einer psychisch Kranken, sondern die Erfahrungen, die sie aus Neugierde gemacht hat: Nein, beantwortet sie interessierte Nachfragen von Journalisten, ihr Vater habe sie nicht geschlagen und auch nicht missbraucht. Es mag tröstend für diejenigen sein, die über eine sexuelle Normalbiografie verfügen, dass Melissa Panarello mittlerweile einen festen Freund hat, auch weil sie feststellen musste, dass ständig wechselnde Sexualpartner und multiple Orgasmen keineswegs das Herz erwärmen. Und auch dass schneller Sex süchtig machen kann.
Es steckt jedoch noch mehr hinter dem Phänomen Panarello: Der Teen-Sex geht um. Der US-amerikanische Regisseur Lary Clark (61), dessen erster Film „Kids“ bereits 1995 für Furore gesorgt hatte, zeigt in seinem neuen Werk „Ken Park“ Teenager nicht nur in sämtlichen Kopulationsstellungen, sondern auch in gänzlicher Nacktheit, inklusive Erektionen und Ejakulationen. Clark möchte zeigen, dass Teenager Sex haben, eine Wahrheit, die eigentlich bekannt sein dürfte, jedoch im Interesse der Eltern lieber verschwiegen wird, und das trotz der sexuellen Revolution. Vorbei die Zeiten, in denen Eltern sich schützen konnten vor den erschreckenden Geschehnissen, die sich in dem Schutzraum zutragen, den sie der Jugend zugedacht hatten. Jugendforscher sprechen schon lange von einem Paradigmenwechsel innerhalb der Jugendkulturen: Junge Menschen sehen sich mit Erwachsenen konfrontiert, die nicht erwachsen werden wollen und Jugendlichkeit bis ins hohe Alter als Popanz vor sich hertragen. Die Jungen reagieren zum einen mit dem Rückzug auf die eigenen Körperlichkeit, die von den Erwachsenen nicht kopiert werden kann: Ein muskulöser, straffer Bauch, ein Tattoo auf glatter, gebräunter Haut, dies sind die Insignien originärer Jugendlichkeit. Zum anderen besetzen Teenager beziehungsweise „Tweens“, also junge Menschen zwischen neun und vierzehn, einfach im Gegenzug die Räume der Erwachsenenwelt. Melissa Panarello etwa hat im Alter von 18 Jahren bereits sämtliche sexuellen Fantasien ausgelebt und kann sich diesbezüglich neuen Ufern zuwenden. Das macht ihr so schnell kein Erwachsener nach.
Doch so wie Larry Clark im Spiegel-Interview freimütig gesteht, dass man sich für Sex zwischen Menschen seines Alters wohl kaum interessieren würde, bedient die Teensexwelle natürlich auch die erotischen Interessen der erwachsenen Mehrheitsgesellschaft. Teenager geraten schlicht in den Vermarktungskreislauf einer nach Sex gierenden Medienindustrie, die damit gefährlich nahe am letzten Tabu der westlichen Gesellschaft vorbeischrammt: am Sex mit Kindern. Der Schutzraum Jugend bröckelt allmählich dahin; unterstützt wird dieser Prozess auch von angeblichen Veränderungen in der menschlichen Biologie. So besagt eine vor fünf Jahren in den USA veröffentlichte Studie der Medizinerin Marcia Herman-Giddens, dass vor allem bei Mädchen die Pubertät heute bis zu fünf Jahre früher einsetzt. Zudem haben sich durch das Internet einfachere Zugriffsmöglichkeiten sowohl auf pornografisches und aufklärendes Material als auch auf konkrete Sexkontakte ergeben. Melissa Panarello ist denn auch ein Kind des Internetzeitalters: Im Chat lernt sie wildfremde Männer kennen und trifft sich mit ihnen, zur Not in einer Garage.
Es ist nichts Neues, dass Teenager Sex haben, neu ist nur die Art und Weise, wie er thematisiert wird. Falls Michel Foucault Recht behalten sollte, wird es den Teenagern in Zukunft allerdings so gehen wie den Erwachsenen: Je mehr über Sex geredet wird, desto weniger findet er statt. Sex, in den Diskurs gezerrt, verkommt zur bloßen Theorie. Beunruhigte Eltern könnten dann nachts wieder ruhig schlafen.