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Archiv-Artikel

Die Lücken zum Sprechen gebracht

Nach Süden: Der Film „Fluchtweg nach Marseille“ rekonstruiert den Weg deutscher Exilanten nach der Besetzung von Paris durch die Nazis 1940

von STEFANIE MAECK

Manche Dinge, von denen man erzählen möchte, finden keine Bilder, keine Worte. Sie bleiben ohne Repräsentation. Der 1977 entstandene Film Fluchtweg nach Marseille von Ingemo Engström und Gerhard Theuring nähert sich einer solchen, einer traumatischen Erfahrung in ruhigen, zeitlosen, fast schwebenden Bildern. Der Film geht einem Weg nach, spürt Orten, ihren verschütteten Erinnerungen und Spannungen nach: Er erzählt vom Fluchtweg deutscher Exilanten im Jahre 1940 von Paris nach Marseille, einem Weg, der Identitäten und Existenzen vernichtet und neu formiert hat. Ein Weg, auf dem die Schritte der Verbliebenen auf ihrer Flucht vor Hitlers Besetzung der „Kapitale“ endlos und stumm nachhallen.

Der Wunsch ist, alles zu erzählen, alle die Schichten anzusprechen, die heute noch berühren und von denen auch die Orte noch sprechen. Die Filmsprache greift dazu zu ruhigen, gleitenden Bildern, sucht immer wieder im Strömen des Wassers metaphorische Anleihen und Halt bei literarischen Erfahrungen: Seghers, Camus und Weiss leihen dem Film eine eigene Sprache. Eine Sprache, die persönlich, zuweilen mutig poetisch im Ausdruck ist, eine Sprache, die an den Anderen gerichtet ist.

Dabei wird Anna Seghers Transit zur literarischen Anleihe des Films. Ein Buch, das in einem zeitlosen Schwebezustand auf dem Fluchtweg der Autorin nach Marseille entstand. Ein Buch, dem der Film in seinem Grenzgängerdasein zwischen Heute und Gestern, im Ineinanderblenden von Zeitebenen – immer wieder 1977 und 1940 –, nahe zu kommen sucht. Die Rekonstruktion der Spur endet folgerichtig erst im Hafen von Marseille, beim Blick durch die Luke eines Hotelzimmers auf das teilnahmslose Wasser. Dabei nimmt das Filmische zuweilen Zuflucht zu den Techniken moderner Literatur: Die Erinnerungsspirale nähert sich dem „Bewusstseinsstrom“, und doch ist der Erinnerungsweg des Filmessays schnurgerade, erzielt eine dokumentarische Exaktheit.

Auf den Zwischenstationen fangen immer wieder poetische Stimmen einige Augenblicke ein. Sprechen von Momenten, in denen die Sonne unablässig auf die Flüchtenden brennt, Momente, die nicht zum Leben gehören, sondern zu einem Niemandsland. Und dann plötzlich heißt es: Wir sprechen von Ausschwitz. Wir sprechen von Ausgrabungen, von dem, was förmlich unter der Zeit im Verborgenen der Bilder liegt. Der Film will tiefer sinken, will andere Schichten des Wahrnehmens erreichen – die sich erst in den Aussparungen erschließen.

Fluchtweg nach Marseille gibt dem Zuschauer Zeit, das Unfassbare zu erfahren. Er verweilt bei verrotteten Autowracks in dem Dorf Oradour sur Glane, das von den Deutschen in unergründbarer Zerstörungswut vernichtet wurde, fährt um eine Kurve und erzählt per Off-Stimme von dem Massaker in der Kirche, von Menschen, die besinnungslos ins Freie stürzen und Stunden ohne Erinnerung in einem Graben verbringen. Der Film erreicht ganz sanft und still eine schockierende Intensität.

„Wir sprechen von Orten des Todes und Bildern des Vergessens“, heißt es im Film. Hitlers filmisch inszenierte Einfahrt in Paris wird gezeigt. Schweigend, ohne Chor. „Alle historischen Ereignisse werden von dem Lachen des Volkes und der Polyphonie des Chores getragen“, zitiert der Film den Theoretiker Michael Bachtin und zeigt Hitler weiterhin schweigend, lässt den „Film im Film“ unter dem leisen Geräusch der Filmbänder wortlos abschnurren und beweist seine ganze Feinheit und Subtilität. Ein Film, der kunstvoll ist, seinen Stilwillen aber hinter sein Thema stellt.

Die Vielschichtigkeit des Filmes zeigt sich auch darin, dass er auf unterschiedlichen Ebenen das Undarstellbare zur Darstellung bringt. Er findet einen Weg der Bebilderung, der gerade in den Lücken der Repräsentation Spuren der Ereignisse zum Scheinen bringt. Abgerundet wird das Ganze durch das Schauspiel von Katharina Thalbach und Rüdiger Vogler.

Teil 1: morgen + Mo, 17 Uhr; Teil 2: morgen + Mo, 18.45 Uhr, Metropolis