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Archiv-Artikel

Schinders Tochter

aus Heuberg KIRSTEN KÜPPERS

Töchter – Von Fußstapfen, Erbhöfen und Altlasten (Teil 2) Manche Kinder nutzen die Berühmtheit ihrer Eltern, anderen ist es unangenehm, immer an Vater oder Mutter gemessen zu werden. Einige zerbrechen an ihrer Herkunft

Nach drei Tagen hat der Mann den Notarzt angerufen. Seine Frau lag im Zimmer. Sie war nicht mehr ansprechbar. Sie lag einfach nur da. Seit drei Tagen schon. Der Mann ging zum Telefon, er wusste nicht mehr weiter. „Ein Nervenzusammenbruch“, stellte der Arzt fest.

Die Frau war im Kino gewesen. Mit Handtasche und Mantel war sie aufgebrochen. Zurückgekommen war sie mit kaputten Nerven. Es war der Film, der das angerichtet hatte im Kopf von Monika Göth. Sie hatte im Kino ihren Vater gesehen. Der Film hieß „Schindlers Liste“. Und der Vater von Monika Göth ist keiner der Guten.

Die Handlung spielt im Dritten Reich. Monika Göth hatte eine Szene gesehen, in der ihr Vater im Unterhemd auf dem Balkon einer Villa steht, eine Pistole in der Hand. Der Vater erschießt ein paar Juden im Hof. Vor dem Frühstück und nur so zum Spaß. Hinten im Schlafzimmer liegt die Geliebte und hält sich genervt das Kissen über den Kopf, sie sagt: „Geh, lass doch die Juden!“ Über 500 Menschen soll Amon Göth als SS-Kommandant im polnischen KZ Plaszow eigenhändig umgebracht haben. „Viele nur aus einer Laune heraus, zur Verbesserung der Stimmung“, wie seine Richter später feststellten. „Schlächter von Plaszow“ wurde er genannt.

Es ist nicht zu erklären, was die Balkonszene im Kopf von Monika Göth genau ausgelöst hat. Man kann sie heute besuchen in ihrem Haus, das versteckt liegt hinter Wiesen weit hinten im bayrischen Altmühltal. Man kann die hoch gewachsene 58-jährige Frau fragen, in ihrem Garten voller Blumen. Wie sie in einen gehäkelten Sommerpullover und gestreiften Hosen vor den Sonnenblumen steht, dort wo der Sommer einem ins Gesicht scheint und wo Angelegenheiten wie Nervenkrisen sehr weit weg wirken. Man kann sie fragen, jetzt zehn Jahre später, warum es sie als Frau mittleren Alters so umgeworfen hat, ihren Vater im Kino zu sehen. Sie muss es doch vorher gewusst haben. Sie muss gewusst haben, wer ihr Vater war.

Monika Göth läuft eilig über das Gras, sie setzt sich in einen Gartenstuhl, die Hand wedelt eine Wespe weg, rüttelt eine Zigarette aus der Schachtel. Monika Göth fängt an zu reden. Sie spricht lange und viel. Es ist eine Erzählung mit Sätzen ohne Ziel und ohne Richtung, eine Geschichte, die viele Zigaretten braucht, die ausholt, sich dreht und wendet und widerspricht und die am Ende doch ein vages Bild ergibt. Einen ungefähren Eindruck von einem Leben. Wo die Zeit keine Abfolge von abgeschlossenen Erfahrungen ist, sondern eine Entwicklung, die vor und zurück läuft, die um Kurven fährt, sich umstülpt, wahllos Menschen und Beziehungen reißt und doch weiterläuft. Es ist schlimm gewesen, und es hat gedauert. Und ob die Entwicklung schon abgeschlossen ist, ist nicht gesagt. Monika Göth zündet eine neue Zigarette an.

Als Kind wusste Monika Göth nichts über ihren Vater. Sie hat ihn nicht gekannt. Sie wusste nicht, dass er hingerichtet worden war 1946 in Polen. Ihre Mutter hat erzählt, er sei „im Feld geblieben“. Und das waren ja die wahren Helden, sagt Monika Göth heute und sie spielt mit dem Daumen am Feuerzeug.

Sie wohnten in einer Wohnung in Schwabing, erzählt sie. An der Wand im Schlafzimmer hing ein Foto ihres Vater Amon Göth. Für die Mutter war er die große Liebe. Überhaupt die Mutter. Im Film Schindlers Liste ist sie die Geliebte im Bett. Und die Lebensgefährtin ist sie auch im richtigen Leben gewesen. Eine schöne und verwöhnte Frau, Ruth Irene Kalder, die mit Amon Göth auf hohen Pferden durchs Lager reitet, die in der Villa mit den Hunden schmust und abends ausschweifende Partys veranstaltet. Dem Grauen des Arbeitslagers entzieht sich Ruth Irene Kalder durch ein Leben in Luxus. Sie geht einkaufen, legt Gurkenmasken auf und hört Musik vom Grammophon. Im Kopf hat sie eine Schranke errichtet. „Sie hat mitbekommen, was im Lager passiert. Aber sie wollte es nicht wissen“, sagt Monika Göth. Die Stimme ist lauter geworden.

Ihre Mutter hat Monika Göth nur bei ihren Vornamen „Ruth Irene“ genannt. Es war die Großmutter, die für sie sorgt. Ruth Irene war die Frau, die im extravaganten rosa Hosenanzug und mit rosa Sandalen durch die Straßen trippelt, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist für ein Kind, die ihre Tochter „Trampeltier“ schimpft. Eine Frau, die eine lebenslange Unzufriedenheit vor sich herträgt, weil die Welt ihr zu früh ihre Liebe genommen hat. Für Ruth Irene Kalder gab es nie einen anderen Mann. Am 3. Februar 1948 hat sie ihren Nachnamen und den ihrer Tochter in „Göth“ geändert. Die Schranke im Kopf bleibt zu.

Es kam vor, dass Leute die Tochter wegen ihres Aussehens angesprochen haben. „Gell, du bist die Monika?“, hat die blonde Zigarettenhändlerin das kleine Mädchen gefragt, „Ich kenn deinen Vater aus Plaszow.“ Göth vermutet heute, dass die Frau eine Jüdin war.

Aber wenn Monika Göth dann zu ihrer Mutter gelaufen ist und wissen wollte, was der Vater gemacht hat in Plaszow, gab es nur Streit. Es war die Großmutter, aus der das Mädchen es dann rausgepresst hat. „In Polen haben sie die Juden aufgehängt“, hat die alte Frau gestanden. „Dein Vater war dabei.“

Und natürlich hat das Mädchen dann weitergefragt, der Mutter die Antwort der Großmutter an den Kopf geworfen, und wieder gab es Krach in der Mansardenwohnung in Schwabing. Einmal hat Ruth Irene Göth ihre Tochter mit einem Kabel geschlagen, – so wenig war das Fragen erlaubt. Und da steckte Monika Göth dann schon mitten drin in einem schweren Leben.

Das Schlimme hat sie verfolgt. Monika Göth wurde von Depressionen befallen, sie hat Tabletten genommen, einmal landete sie in der Psychiatrie. Später hat sie einen Kerl geheiratet, der sie prügelt und auf den Strich schickt. Jetzt hat sie einen guten Mann, „einen Lottotreffer“, sagt sie, der Mann, mit dem sie hier draußen im Altmühltal lebt. Die beiden ziehen einen zweijährigen Enkel groß. Denn Monika Göths Tochter aus erster Ehe ist heroinabhängig. Sie erzählt das, als wäre es nichts Besonderes. Die beiden sehen sich nur selten. Vielleicht hat die Sucht ja auch irgendwie mit dieser Herkunft zu tun. Mit dieser Verwandtschaft, die einem anhängt wie ein Fluch.

Die elegante Mutter Ruth Irene Göth hat sich schließlich umgebracht deswegen. 1983 hat sie einem britischen Fernsehteam ein Interview über Amon Göth gegeben. Danach hat sie sich aufs Bett gelegt und 50 Schlaftabletten geschluckt. Monika Göth hat sie am nächsten Tag gefunden. Es ist ein Morgen im Januar, als sie eine Mutter verliert, die nie eine war. Die Last eines schwierigen Mutter-Tochter-Verhältnisses fällt damit nicht von ihr ab. „Ich geb mir immer noch die Schuld an ihrem Tod“, sagt Monika Göth. Sie schüttelt die Zigarette in den Aschenbecher, guckt in die Luft.

Es ist zu viel Haftung für einen Menschen allein. Es hat sie zerrissen. Nach dem Tod von Ruth Irene Göth fühlte die Tochter, sie müsse ihren Vater in Schutz nehmen. „Es war ja keiner mehr da, der das sonst tut“, erklärt Monika Göth heute. Wenn ihr Vater in diesem Lager war, dann müsse dort auch etwas Menschlichkeit gewesen sein, hat sie gedacht. Sie hat es gehofft. Sie hat sich daran geklammert. Jahrelang.

Aber da war noch etwas. Eine Sache, die die streunenden Gedanken nicht mehr halten ließ. Die Mutter hatte in dem Interview einen Satz gesagt, einen unglaublichen Satz. Monika Göth steht jetzt auf und läuft über den Rasen. Der Satz, den ihre Mutter gesagt hatte, war: „Maby he killed some Jews“, und es ist diese Borniertheit ihrer Mutter, die macht, dass Monika Göth nun bei sich im Garten steht und brüllt: „Jetzt sind sie alle weg. Und ich kann das alleine aufarbeiten für die ganze Mischpoke!“

Drinnen im Haus sitzt ihr Mann mit dem Enkel vor dem Fernseher, die Geräusche vom Kinderprogramm lärmen auf die Terrasse. Und während Monika Göth im Gras des Gartens steht und ruft und flucht, ihren Vater als „blödes Dreckschwein“ beschimpft, fragt man sich, wie viele Ausbrüche dieser Art es wohl gibt jeden Tag.

Aus dem Schatten ihrer Eltern kommt sie nicht weg. Vorhin als der Mann noch nicht mit dem Kind vor dem Fernseher war, hat er erzählt, dass er und seine Frau eigentlich ständig über das Thema reden, dass es wohl nur so zu verarbeiten ist. Monika Göth hatte ihn angeguckt und genickt. Neuerdings träumt sie davon, dass ihr Vater mit einer Waffe in der Tür steht und sie als Tochter verhindern muss, dass er alle erschießt.

Sie gibt sich wirklich Mühe. Es hat gedauert, aber Monika Göth stellt sich. Ihren Vater nimmt sie nicht mehr in Schutz. Sie trifft Überlebende, sie hält Kontakt zu Opferfamilien, sie hört jüdische Musik und lernt Althebräisch. Sie kennt fast jedes Buch, dass es über den Holocaust gibt. Vor zwei Jahren hat sie einem Filmemacher ihre Geschichte vor der Kamera erzählt, der Film kommt im Herbst in die Kinos – aber es lässt sie nicht los. Jetzt steht sie auf dem Rasen, wütend und mit einer brennenden Zigarette in der Hand. „Wie soll einer jemals über so was hinwegkommen?“ Sie ruft es wieder in den Garten hinaus.