: Entsinnlichung des Wissens
Wenn „Humankapital“, also menschliche Fähigkeiten und nicht formalisierbares Wissen, wichtiger wird als Sachkapital, im spätkapitalistischen System aber auch Humankapital nur in privatisierter Form verwertet werden kann, ergeben sich Widersprüche zwischen materieller Form und immateriellen Wissensinhalten. Der Sozialphilosoph André Gorz geht diesen Widersprüchen in seinen jüngsten Untersuchungen nach
Interview THOMAS SCHAFFROTH
„Was für ein Unterschied zu den wendigen Pariser Modephilosophen, die auch schon mal vor den Trümmern Sarajevos posieren! Gorz hat kleinere Auflagen, nachhaltigeren Einfluss – und keine Illusionen“, charakterisiert SPD-Politiker und Medienwissenschaftler Peter Glotz André Gorz.
1923 in Wien als Sohn eines jüdischen Holzhändlers geboren, verbrachte Gorz die Kriegsjahre in der Schweiz und ließ sich nach Kriegsende in Paris nieder, wo er mit Sartre an dessen Zeitschrift Les Temps modernes und später als Redakteur bei den Zeitschriften L’Express und Le Nouvel Observateur arbeitete. Der undogmatische Marxist Gorz trug zur Verbreitung der Theorien von Herbert Marcuse und Ivan Illich bei. Seine eigenen Schriften wie „Abschied vom Proletariat“ (dt. 1980) und „Wege ins Paradies – Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit“ (dt. 1984) sollten für ökologische Linke Kultbücher werden. Gorz, der heute mit seiner Frau im Burgund lebt, setzt sich in seinen Studien mit der Verwandlung der Arbeit in Ware auseinander („Arbeit zwischen Misere und Utopie“, dt. 2000) und kritisiert die herrschende Klassengesellschaft, die alle Materie in Ware umzuformen trachtet („L’Immatériel. Connaissance, valeur et capital“, Editions Galilée, Paris 2003).
taz.mag: In Ihrem neu erschienen Buch „L’Immatériel“ stellen Sie die Frage, ob es eine kapitalistische Wissensgesellschaft überhaupt geben kann. Sie sind aber der Meinung, dass Wissensökonomie und Kapitalismus nicht vereinbar sind. Warum?
André Gorz: Weil in der so genannten Wissensökonomie die Maßstäbe der herkömmlichen Ökonomie nicht länger gelten. Die wichtigste Produktivkraft, Wissen, ist nicht mehr quantifizierbar, die auf Wissen gegründete Arbeitsleistung ist nicht mehr in Arbeitsstunden messbar. Und die Umwandlung von Wissen in Kapital – in Geldkapital – stößt trotz aller Kunststücke auf unlösbare Schwierigkeiten. Kurz: Die drei fundamentalen Kategorien der politischen Ökonomie, Arbeit, Wert und Kapital, können nicht mehr rechnerisch erfasst werden. Das macht auch Begriffe wie Mehrwert, Mehrarbeit, Tauschwert, Bruttosozialprodukt immer schwerer anwendbar. Die Makroökonomen tasten im Dunkeln, wenn sie versuchen, die wirtschaftliche Leistung und Entwicklung mit herkömmlichen Kategorien zu messen. Die Wissensökonomie ist im Grunde eine tiefgreifende Krise des Kapitalismus und weist auf eine andere, neu zu gründende Ökonomie hin. Das begründet auch die weltweite Diskussion über die Frage, was Reichtum eigentlich ist, welchen Kriterien er entsprechen soll.
Jeremy Rifkin hat in seinem Buch „Access“ gezeigt, dass immaterielles Wissenskapital bei der Wertschöpfung eine überwiegende Rolle spielt und den wichtigsten Teil des Firmenkapitals darstellt. Firmen lagern ihr Sachkapital aus und verkaufen nur noch Wissen und Dienstleistungen.
Dem ist so. Als „Wissen“ bezeichnet man aber sehr unterschiedliche Sachen. Es gibt keinen einheitlichen Maßstab. Da haben wir die künstlerischen Fertigkeiten, die Fantasie und die Kreativität, die in der Werbung, dem Marketing, dem Design, der Innovation beansprucht werden, um den Waren, auch den ordinärsten, einen künstlerischen, symbolischen, unvergleichbaren Wert zu verleihen. Werbung und Marketing sind wahrscheinlich die größte Wissensindustrie. Indem sie die Waren mit einzigartigen, unvergleichbaren Qualitäten versehen, können die Firmen ihre Ware eine Zeit lang zu überhöhten Preisen verkaufen. Sie verfügen über eine Art von Monopol, verschaffen sich eine Monopolrente und umgehen momentan das Wertgesetz.
Wie ist bei diesem Prozess das Verhältnis von Wissen und Kenntnissen?
Wissen im Sinne von technischen und wissenschaftlichen Verfahren und Kenntnissen mag eine ähnliche Rolle spielen, doch hat seine Wirkungsbreite und sein Gebrauchswert eine viel direktere Wichtigkeit. Im Unterschied zu künstlerischen und innovativen Fertigkeiten können Kenntnisse und Verfahren von ihren BenützerInnen getrennt weitergegeben, formalisiert, digital umgeschrieben und in Computern ohne menschliches Zutun produktiv eingesetzt werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist Wissen fixes Kapital, Produktionsmittel. Aber es weist gegenüber früheren Produktionsmitteln einen entscheidenden Unterschied auf: Man kann es praktisch kostenlos in grenzenlosen Mengen verfielfältigen. Wie aufwändig seine ursprüngliche Erarbeitung auch sein mag, tendiert digitalisierbares Wissen dazu, kostenlos zugänglich und verwendbar zu werden. Denn wenn es millionen- oder milliardenfach vervielfältigt und genützt wird, schlagen seine ursprünglichen Kosten kaum noch zu Buch. Das gilt für alle Softwareprogramme wie auch für den Wissensinhalt von Medikamenten.
Wenn es als fixes Kapital funktionieren und zur Mehrwertabschöpfung dienen soll, so muss Wissen folglich ein patentiertes Monopoleigentum sein, welches seinem Inhaber eine Monopolrente einbringt. Von der Höhe der Rente, die man erwarten kann, hängt der Kurs ab, den das Wissenskapital an der Börse erreicht. Auf dieser Grundlage lassen sich gigantische Finanzblasen aufblähen, die eines Tages jedoch jäh zerbersten. Der seit Mitte der Neunzigerjahre voraussehbare Börsenkrach beweist, wie schwierig es ist, Wissen in Geldkapital umzuwandeln und als Wissenskapital funktionieren zu lassen.
Sie weisen nun wiederholt darauf hin, dass die Wissensökonomie auf die Notwendigkeit einer „anderen Ökonomie“ und einer anderen Gesellschaft hinweist, deren Möglichkeiten sich auch praktisch abzeichnen.
Ja, das Wissen ist keine ordinäre Ware. Es eignet sich nicht dazu, als Privateigentum behandelt zu werden. Seine Inhaber verlieren es nicht, wenn sie es weitergeben; je weiter es verbreitet ist, umso reicher ist die Gesellschaft. Es verlangt, als Gemeingut behandelt und von vorne herein als Resultat gesamtgesellschaftlicher Arbeit betrachtet zu werden. Denn seine Privatisierung beschränkt seinen gesellschaftlichen Nutzwert. Das ist in den letzten zehn oder zwanzig Jahren so offensichtlich geworden, dass sich weltweit eine antikapitalistische Front im Kampf gegen die Wissensindustrie gebildet hat; gegen die Chemie- und Pharma-Industrie, aber auch gegen die Software-Industrie, namentlich Microsoft.
Der Wissenskapitalismus eignet sich ja nicht allein das von ihm geschröpfte Wissen an. Er privatisiert auch ausgesprochene Gemeingüter wie das Genom von Pflanzen, Tieren und Menschen und greift kostenlos auf kulturelles Gemeingut zu, um es als kulturelles Kapital, als „Humankapital“, zu verwerten. Darunter verstehen sich hauptsächlich die menschlichen Fähigkeiten und nicht formalisierbare Formen von Wissen, welche die Individuen im täglichen Verkehr mit ihren Mitmenschen entwickeln. Instrumentalisiert und ausgebeutet wird also im „capitalisme cognitif“ – wie ihn Theoretiker in Frankreich, die Toni Negri nahe stehen, nennen – nicht nur die geleistete Arbeitszeit, sondern auch die in der Nichtarbeitszeit vollzogene unsichtbare Selbstentfaltungs- und Bildungszeit. Letztere wird eine der wichtigsten Quellen von Produktivität und Wertschöpfung. Eine wirkliche Wissensgesellschaft würde erfordern, dass die Wirtschaft in den Dienst von Bildung und Selbstentfaltung gestellt wird, und nicht umgekehrt, wie heute. Diese Einsicht finden wir schon bei Marx, der schrieb, eigentlicher Reichtum sei „die Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebenen Maßstab“. Die Forderung nach garantiertem Existenzgeld hat hier eine Grundlage.
Wie gestaltet sich die „andere Ökonomie“, jenseits vom Kapitalismus?
Beispielsweise in den Free Nets und in der Kultur der freien Software mit offenem Quellcode für Internet-Benutzer. Die meisten Unternehmen arbeiten bereits in Netzwerken. Sie stimmen ihre Entscheidungen auf- und miteinander ab. Selbstorganisierung und Selbstkoordinierung und freier Austausch sind heute Grundlagen der gesellschaftlichen Produktion. Letztere können folglich ohne zentrale Planung und ohne Vermittlung des Marktes erfolgen. Die vernetzten Produzenten würden sich von vorneherein gezielt auf die den Bedürfnissen entsprechenden Produktionen verständigen und diese „von vorneherein als gemeinsame Tätigkeiten“ unternehmen, indem sie Güter und Dienstleistungen tauschen, ohne ihnen vorerst den Warencharakter zu geben. Das Geld würde so überflüssig gemacht und dem Kapital die Grundlage entzogen, eine Theorie, die vor allem Wolf Göring in seinen Studien über Informations- und Kommunikationstechnik entwickelt hat.
Eine Wissensgesellschaft in dieser von Ihnen umrissenen Form wäre eine kommunistische Gesellschaft.
Genau.
Den Vorreitern der künstlichen Intelligenz und des künstlichen Lebens werfen Sie vor, eine posthumane Zivilisation vorzubereiten.
Das ist mir ganz wichtig. Der Berliner Philosoph Erich Hörl zeigt beispielsweise in seiner meisterhaften Dissertation auf, wie die Wissenschaft sich im Laufe der letzten 150 Jahren mehr und mehr von der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit losgelöst und durch mathematisierendes Denken nur mehr mathematisch erfassbare Strukturen des Realen aufgedeckt hat. Die beispielsweise in Computern schaltbare mathematische Kalkülsprache hat der Wissenschaft, aber auch dem Kapitalismus, dazu verholfen, sich gegenüber Sinnfragen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verselbstständigen und nicht Kalkulierbares als nicht real auszuklammern. Die mathematische Entsinnlichung der Denkprozesse hat allmählich zu einer Lebensumwelt und Lebensweise geführt, der die Menschen körperlich und geistig nicht mehr gewachsen sind. Daraus schließen die waltenden Mächte, dass man leistungsfähigere Menschen schaffen muss. Militärischer und ökonomischer Leistungs- und Machtwahn fordern künstliche Intelligenz und künstliche Menschmaschinen. Von einer Wissensgesellschaft wird erst die Rede sein können, wenn sich Wissenschaft und Ökonomie nach gesellschaftspolitischen, ökologischen und kulturellen Zielen richten und nicht nach dem Imperativ der Kapitalverwertung. Dafür gibt es eine noch kleine, aber steigende Anzahl von Befürwortern in den Wissenschaften selbst.
THOMAS SCHAFFROTH, Jahrgang 1952, ist Historiker und Journalist. Er lebt in Marseille