: Zwei Räder. Und das Rhonetal
Von Oberwald im Goms bis Genf im Waadtland: Eine Radtour flussabwärts die Rhone entlang ist landschaftlich schön und steigungsarm. Die Gipfel ziehen seitlich vorüber, der Wein an den Südhängen motiviert, und der Wind bläst nur nachmittags
von EDITH KRESTA
Er ist mir teuer wie die Schweiz. In der Schweiz darf man mit Franken nicht geizen, in der Liebe nicht mit Gefühlen. Wir radeln – er und ich – fünf Tage die Rhone entlang, immer flussabwärts. Wadenschonend. 269 km in fünf Tagen. Das Gepäck wird transportiert, die Hotels zwischen Oberwald im Goms und Genf im Waadtland sind gebucht.
Von Oberwald nach Brig
Nahe der Furkastraße entspringt die Rhone dem Gletschertor und fließt 812 km zum Mittelmeer. Unterhalb des Rhonegletschers in Oberwald, Knotenpunkt zwischen Grimsel- und Furkapass, leihen wir Räder an der kleinen Bahnstation. Der Fahrtwind fächelt uns frische Bergluft zu. Klares Bergwasser in Tränken am Wegesrand bietet kurze Erfrischung. Vorbei an der sommerlichen Eisenbahnlandschaft – mit Tunneln, grünen Wiesen, steilen Gipfeln, barocken Kirchen und hübschen Dörfern – radeln wir bis Ernen, immer der jungen Rhone entlang, die hier Rotten heißt. Die Rhone-Route ist gut gekennzeichnet und einfach zu fahren. In Ernen verlieren wir sie trotzdem.
Wir machen einen unfreiwilligen Abstecher ins Binntal. Die steile und felsige Fahrt über Ausserbinn und Grengiolis lässt uns an den Versprechungen der Prospekte zweifeln, die Rhone-Tour sei eine Familienroute. Er entwickelt nun im schroffen Gelände Pioniergeist und ist längst nicht mehr zu sehen. Ich hechle hinterher, stürze über den Lenker und schiebe die nächsten Kilometer das Rad. Abgekämpt und mit schmerzenden Rippen erreiche ich ihn wieder. Er sitzt ausgeruht vor einer kleinen Kapelle. Wir einigen uns auf mehr Rücksicht für die Schwachen.
Bis Brig geht es nun immer bergab die Hauptstraße entlang. Nach der Mountainbike-Einlage ist selbst der heftige Verkehr auf diesen letzten 10 km versöhnlich. Noch versöhnlicher stimmt das gute Essen in der Schweiz. Raclette, Fondue und das schwere Roggenbrot sind die bekanntesten Walliser Spezialitäten, ebenso lecker sollen Chäs-Chiechjini, im Teig gebackene Käsestücke, und Cholera, ein Gemüsekuchen mit Äpfeln und Käse, sein. Wir nehmen trotzdem das Fleisch von Schweizer Kühen. Es macht schneller satt als das aufwändige Fondue. Wir wollen schlafen. Vor allem die Rechnung, aber auch der trockene Fendant bestärken unsere „Jetzt reichts für heute“-Haltung. Brig bleibt unerforscht.
Von Brig nach Sierre
Ruhig und beschaulich fahren wir am nächsten Tag durch die aufgeräumte Rhonelandschaft mit Obstgärten, Sonnenblumenfeldern und bunten Sommerwiesen nach Sierre. So stressfrei soll es sein in den Ferien, wo sich bekanntlich die schönsten und gefährlichsten Krisen des bürgerlichen Alltags abspielen. In den Ferien kann die Liebe gedeihen – man kann sich aber auch schnell auf die Nerven gehen. Wir setzen auf Gedeih und sind fest entschlossen, zwar das unaufhaltsame Schmelzen unseres Urlaubsetats, nicht aber eine Belastung unseres Beziehungskontos in Kauf zu nehmen.
In Radon steht die Burgkirche St. Romanus. Hier liegt der Dichter Rainer Marie Rilke begraben. Rilke, der die letzten Lebensjahre in der Schweiz verbrachte, wollte im Wallis bestattet werden. Wie die Dichtung ist auch die sommerliche Auszeit, die Zeit für große Gefühle: Er wartet jetzt immer auf mich!
Nun beginnt an den Südhängen der Weinanbau. Durch die sanften Hügel der Weinberge wirken auch die schroffen Höhen von Zermatt und Saas Fee besänftigt. Bei Susten mäandert die Rhone wie zu Urzeiten. Kein Flussbett zähmt sie. So aufregend wie hier ist die ansonsten begradigte Rhone nirgendwo. Der Pfynwald, wie diese Flusslandschaft mit ihren Kieselinseln und Föhrenwäldern heißt, ist schwer zu befahren. Er strampelt deshalb den steilen Weg nach Salgesch hoch, ungebremst wie die wilde Rhone, ich nehme den Zug dorthin. Unser Yin und Yang ist im Einklang, unsere jeweiligen Bedürfnisse auch.
Salgesch ist das letzte deutschsprachige Weindorf, bevor wir zu den Welschen kommen. Der Wein schmeckt würzig-mild und macht die Abfahrt nach Sierre durch die Weinberge noch romantischer, als sie ohnehin ist.
In Sierre wird französisch gesprochen, und die Welt wird bunter, internationaler. Das Döner kostet umgerechnet 6 Euro. Er will unbedingt Döner essen. Ein fettes Stück Heimat, teuer bezahlt. Trotz der Grenznähe versteht die Verkäuferin kein Deutsch. Er schenkt ihr auch noch das Wechselgeld. Unser Hotelier im Minotel Casino von Sierre kommt aus Brig. Er lebe lieber bei den Welschen, erzählt er, die seien entspannter. Er erklärt uns, warum selbst hier an der Grenze nur wenige deutsch sprechen: Mit ihrem Schuldeutsch könnten die französischsprachigen Schweizer im benachbarten Wallis wenig anfangen. Das Walliser Schwyzerdeutsch sei kaum zu verstehen. „Das nimmt die Motivation, Deutsch zu lernen“, sagt er in sehr gemäßigtem Schwyzerdeutsch. Im Weinmuseum mit Restaurant von Sierre verkosten wir den einheimischen Wein. Der trockene Weißwein und der klare Birnenschnaps motivieren uns ungemein, selbst bei dem Gedanken an die 70-km-Tour am darauf folgenden Tag: vor dem Westwind, der hier das Rhonetal hinaufbläst, wird gewarnt.
Von Sierre nach Aigle
Windstille, und der autofreie Weg die Rhone entlang ist schnurgerade und geteert. Wir fühlen uns fit und wagen etliche Abstecher von der eigentlichen Strecke. In St. Leonhard lassen wir uns in den unterirdischen See rudern. Der große, schwarze See im Berg ist nicht nur beeindruckend, sondern auch erholsam kühl. Gleich hinter Sion machen wir Mittagsrast mit Baden an den Baggerseen von St.Iles. Es ist schattig, entspannend.
Schließlich haben wir Ferien, und die sind bekanntlich das Letzte, was an überschießender Freiheit in den Alltag scheint. Er wird unruhig, warnt zum Aufbruch des Windes wegen, der meist um die Mittagszeit aufkommt. Ich finde ihn ungemütlich. Wirklich ungemütlich wird es allerdings erst mit dem immer stärker werdenden Wind. Er bläst uns zurück. Treten, treten, treten. Kein Vorankommen und kein Ort, nirgends. Die Rhone schlängelt sich Kilometer um Kilometer fern von bewohnten Orten durch die Landschaft. Kein Bistro, kein Restaurant direkt am Weg, nur Wiesen, Wasser, Berge, und von fern sieht man die Türme von Martigny. Unsere Hoffnung für eine Rast und Stärkung. Doch auch dieser Ort, den Napoleon als strategischen Zugang zum Großen St. Bernhard und nach Chamonix nutzte, ist 1,5 km vom Rhone-Radweg entfernt. Und wir haben noch 30 km bis Aigle! Martigny ist mein Waterloo. Hier am Rhoneknie pustet der Wind am Spätnachmittag mit vollster Kraft und stellt sich gegen uns. Jeder zusätzliche Kilometer eine Herausforderung.
Er spornt mich nachsichtig an. Unendlich scheint der restliche Weg nach Aigle, der teilweise an Industriegebieten vorbeiführt. Doch Krise und Glück liegen nahe beieinander. In Aigle haben wir nicht nur das bis jetzt schönste Zimmer mit Blick über die Altstadtdächer und auf Weinberge, sondern auch Nescafé zum Selberkochen. Er kippt gleich drei wie Schnaps. Wir haben es überstanden und betrachten die Tour de France, die im Fernsehen übertragen wird, mit wachsender Bewunderung.
Von Aigle nach Lausanne
Die Strecke nach Lausanne ist „zum Heulen schön“. So empfand auch Jean Jacques Rousseau den Genfer See. Auch er hat Tränen in den Augen. Er ist erkältet und fährt heute immer als Zweiter. Rollentausch. An den steilen Ufern des Genfer Sees – in den unsere ständige Begleiterin die Rhone verschwand – liegen die Weinberge und „Rebbaudörfer“.
Kurzer Besuch im Schloss Chillon am See. Weiter nach Montreux, an dessen Uferpromenade gerade internationale Jazzgrößen wie Natalie Cole, Noa, George Benson, Gilberto Gil spielen. Vorbei an Villen, Schönheitskliniken und alten Hotels nach Vevey, wo Charlie Chaplin, der hier lebte, versteinert und in Echtgröße aufs Wasser blickt. Lausanne und Vevey sind luxusverwöhnte Ferienorte mit Aussicht auf die Alpen und den Mont Blanc. Ab Chillon müssen wir leider die Hauptstraße fahren. Unzählige Cabriolets rasen an uns vorbei. Begnadete Schweiz, verdammte Hauptstraße. Erst kurz vor Lausanne geht es wieder ruhig am Ufer entlang.
Im Hotel ala Gare in Lausanne ist unsere Gepäck wie immer bereits auf dem Zimmer. Und da wir es nicht selbst transportieren müssen, ist mein Koffer – zugegeben – etwas groß und etwas voll geraten. Aber dass er fast das ganze Zimmer ausgefüllt, damit hätten wir nicht gerechnet. Wo nichts als Nähe ist, und das auch noch bei seiner beginnenden Grippe, üben wir uns in Gelassenheit. Wir ignorieren die stickige Enge, die Hitze und den monströsen Koffer einfach. Ferien führen bisweilen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und manchmal zur Läuterung.
Der Genfer See ist einfach zu schön, um ihn zu umradeln. Man muss darin baden. Vor allem, wenn es 35 Grad hat, die Sommergrippe droht und noch 70 Radkilometer vor einem liegen. Wir geben die Räder am Bahnhof von Lausanne ab und beschließen, abends mit dem Zug weiter nach Genf zu fahren. Überall am Ufer kleine Badestrände, im Park am See wird gegrillt und gefeiert. Trommeln, Salsa, HipHop. In den öffentlichen Badebuchten gibt es Duschen und Brunnen mit Bergwasser. Die Stadt sorgt gut für ihre Bürger. Lausanne wirkt international, tolerant und reich. Nur die Ratte am Badestrand scheint sich verirrt zu haben. Im Beau Rivage am Seeufer trinken wir einen Abschiedskaffee. Er wäre gern internationaler Diplomat mit Schweizer Konto und Suite im Beau Rivage, ich hätte gerne eine Villa mit Blick auf Evian am gegenüberliegenden Ufer. Unsere Träume treffen sich beim Blick aufs andere Ufer.
Endstation Genf
Genf ist eine Weltstadt mit 200 internationalen Organisationen. Genf ist eine protestantische Stadt, eine Bankenstadt. Es hat eine Reformationsmauer und eine verschandelte Kathedrale in sämtlichen Stilrichtungen. Gianna Westermann zeigt uns Genf, aber am liebsten führt sie uns durch Carouge, ihr Viertel jenseits der Arwe, wo sich inzwischen eine kleine, anspruchsvolle Subkultur niedergelassen hat und wohin die Genfer Protestanten einst zu den Katholiken zum Feiern gingen. Sie zeigt uns auch, wo die Rhone den Genfer See wieder verlässt. „Ein Tropfen der Rhone braucht elf Jahre, bis er durch den See ist“, erzählt sie. Da waren wir schneller. Dank seiner protestantischen Disziplin, behaupte ich. Dank meiner katholischen Begeisterungsfähigkeit, behauptet er.