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Archiv-Artikel

Der tägliche High Noon

Reformagenda 20/03 – Teil 7: Die Sonne brennt, die Luft steht, im Kopf flimmert es. Sie brauchen Hilfe? Kein Problem! Schließen Sie die Läden, entspannen Sie sich – und halten Sie gefälligst Siesta

von JÖRN KABISCH

12 Uhr mittags in Albisola, einem Dorf an der italienischen Riviera. Die Sonne brennt. Die Jalousien sind zu, die Rollos heruntergelassen. Beinah Stille. Nur ein paar Fensterläden klappern, das im Wind vertrocknende Laub der Straßenbäume raschelt leise. Nun wird es laut. Ein Mann und eine Frau beginnen auf dem Marktplatz zu streiten. Auf Deutsch. Das Museum ist geschlossen, das kleine Café macht auch Mittagspause, Supermarkt, Keramikladen und der Zeitungskiosk öffnen erst wieder in vier Stunden. Zum Nichtstun verdammt, bleibt einem oft nur eines: Zank. Es kommt zum High Noon jeder Ferien. „Nie wirst du fertig. Und jetzt ist wieder alles zu“, grummelt die Frau. „Und du, du musstest ja noch mit deiner Mutter telefonieren“, keift er zurück. Doch dann wird es den beiden zu heiß. Der Streit erstickt. Schweigen, Brüten, Schmollen.

Szenen wie diese spielen sich derzeit tausendfach ab, nicht nur in Albisola, sondern auch in Südfrankreich, an der Costa Brava, in Kroatien, Griechenland oder Marokko. Urlaubergrüppchen schleppen sich durch ausgestorbene Dörfer längst auf der Suche nach Schatten statt nach Sehenswürdigkeiten. Es ist Siesta, und alle halten sich daran. Schlafen, dösen, ruhen. Nur die Urlauber aus dem Norden haben mal wieder vergessen: Hält die Sonne im Zenit, dann hat auch das öffentliche Leben stehen zu bleiben. Diese Regel befolgt ein Südländer strenger als die Zehn Gebote.

Die Siesta ist uralt. Das Wort ist spanisch und stammt vom Lateinischen sexta ab, der sechsten Stunde. Das war in der Zeiteinteilung der alten Römer immer die Stunde, in der die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Ein Stadium, das in der Antike mit Sirenen, Satyren, Nymphen und vielen anderen Fabelwesen bevölkert war, den „Dämonen des Mittags“, an die auch schon manch Tourist gedacht haben mag. Und, anders als in Nordeuropa, galt diese Zeit auch als die Stunde der Toten, wenn nicht sogar des Todes selbst. Da ging man lieber nicht nach draußen, da bedeutet Nichtstun Sicherheit und erste Bürgerpflicht.

Heute gehört die Siesta zur Lebenskultur des Südens und sollte mit Espresso, Beaujolais und Chorizo eigentlich auch schon längst Eingang in das Alltagsverhalten der Deutschen gefunden haben. Denn längst pulsiert das Leben in deutschen Städten an einem Sommermittag nicht mehr, sondern es wabert. Und die Klimaforscher sagen für die nächsten Jahre weitere Hitzerekorde voraus. Doch mitnichten. Sommer um Sommer empfehlen Mediziner immer dringender, mittags Ruhe zu geben. „Wenn das mit den Temperaturen so weitergeht, werden wir zur Mittagszeit eine Siesta halten müssen wie in anderen Ländern“, sagt etwa Michael Lafrenz, Oberarzt am Institut für Tropenmedizin der Uni Rostock. Studien in Baden-Württemberg haben ergeben, dass der Organismus bei großer Hitze so unter Belastung steht, dass bei Phasen oberhalb einer gefühlten Temperatur von 28 Grad die Zahl der Todesfälle um durchschnittlich 7 Prozent wächst. Vor allem junge und alte Menschen sind dann anfällig, weil sie einen weniger widerstandsfähigen Kreislauf haben.

Längst hat der Mittagsschlaf auch die Ratgeberliteratur auf den Plan gerufen. Die Deutschen sind ein übermüdetes Völkchen, haben die Schlafforscher der Universität Regensburg herausgefunden. 25 Prozent der Deutschen (und Briten) fühlen sich einmal am Tag schläfrig, ergab ihre Studie, aber nur 7 bis 8 Prozent der Italiener und Portugiesen sowie 4 Prozent der Spanier. Doch statt von Siesta ist hier von Power-Napping oder Minischlaf die Rede. Der kleine Schlaf zwischendurch wird unter Fitness- und Gesundheitsaspekten verhandelt, als konzentrations- und kreativitätsfördernd vermarktet, das neue, natürliche Aufputschmittel der Leistungsgesellschaft. Arbeitsmediziner und Wirtschaftsstatistiker überbieten sich gegenseitig in der Argumentation, wie dadurch Produktivität gesteigert und berufsbedingten Gebrechen, allen voran Rückenleiden, vorgebeugt werde. Doch die Flexibilisierung der Arbeitszeit, wie die Siesta neudeutsch inzwischen heißt, kommt nicht voran. Noch steckt in vielen deutschen Vorgesetzten wie in den Deutschen selbst der Schichtarbeiter. Wenigstens aber träumt schon jeder Dritte laut einer Emnid-Umfrage von einem erholsamen Schläfchen in der Mittagspause.

Doch bedeutet Mittagsschlaf das Gleiche wie Siesta? Wer weiß, was hinter den geschlossenen Fensterläden in Albisola vor sich geht? Vielleicht hat sich da jemand nicht einfach nur aufs Ohr gelegt. Der Mittag, auch davon erzählen die antiken Mythologien, ist zugleich die Stunde der Erotik, wenn die Schlange am lebendigsten wird und der Gott Pan den Hirten nachstellt. Die Fensterläden bleiben geschlossen. Siesta ist Privatsache, der kleine Hoffnungsschimmer für all jene, die noch für ein „Recht auf Faulheit“ kämpfen und ein paar Augenblicke Undiszipliniertheit im Arbeitsalltag.