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Archiv-Artikel

Raus aus der Opferperspektive

Die deutschen Juden auch als Subjekt ihres Handelns darzustellen – unter der Leitung von Michael Brocke geht das Salomon Ludwig Steinheim-Institut der Universität Duisburg-Essen ganz neue Wege bei der Erforschung des europäischen Judentums

VON HOLGER ELFES

Da, wo man es eigentlich kaum erwarten würde, in der Ruhrgebietsmetropole Duisburg arbeitet seit 1986 das Salomon Ludwig Steinheim-Institut, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Kultur-, Religions-, Literatur- und Ereignisgeschichte der Juden im deutschen Sprachraum zu erforschen.

„Damit sind wir eine der wenigen Einrichtungen, die die deutschen Juden als Subjekt ihres eigenen Handelns zum Thema haben“, erläutert Institutsleiter Michael Brocke. Anders als unzählige Forschungsansätze, die Juden vorrangig als Opfer nichtjüdischer Machtpolitik von der römischen Besetzung bis zum Holocaust betrachten, werden die deutschen Juden hier als eine Gruppe begriffen, deren Entwicklung sich über ein Jahrtausend in Eigenständigkeit und stetigem Bezug und Wechselspiel mit den christlichen und säkularen Mehrheiten vollzieht.

Elf Mitarbeiter und eine Reihe studentischer Hilfskräfte zählt das Universitäts-Aninstitut, das zur frisch fusionierten Uni Duisburg-Essen gehört. In dem schlichten Nebengebäude der Hochschule arbeiten Historiker, Philologen, Kunsthistoriker, Theologen, Sozialwissenschaftler und Judaisten an unterschiedlichen Projekten.

So schreibt Barbara Kaufhold an einer umfassenden Geschichte der Juden in Mülheim an der Ruhr von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Thomas Kollatz untersucht deutsche Literatur in hebräischen Lettern. Dabei geht es um Periodika wie „Ha-Meassef“ oder „Bikkure ha-`ittim“, deren Verfasser und Autoren sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf Hebräisch und Hochdeutsch, jeweils geschrieben in hebräischen Buchstaben, an ein jüdisches Lesepublikum wandten. Am Übergang zur Moderne waren die Schriften das Medium, mit dem sich jüdische Aufklärer „zwischen Sprachen“ – so auch der Name der Projektgruppe – einem jüdischen Bildungsbürgertum mitteilten.

Auch Grabinschriften auf jüdischen Friedhöfen sind ein wesentliches Forschungsgebiet des Instituts. Die hebräischen Grabsteinepigraphien sind weit über genealogische Angaben hinaus reichende Quellen zur Erforschung des „Innenlebens“ jüdischer Gemeinden, ihrer Kultur und Sprache. Sie können den Wandel ihrer gesellschaftlichen Struktur und religiösen Entwicklung dokumentieren. Beeindruckende Bildbände, etwa über Jüdische Friedhöfe in Berlin und Krefeld zeugen von der exotischen Schönheit dieser wenig bekannten und lange Zeit vom Zerfall bedrohten Orte.

Als Forschungseinrichtung will das Steinheim-Institut auch in die Gegenwart vermitteln und intervenieren. So richtet man eine umfassende Literatur-Datenbank zur Geschichte der Juden im nördlichen Rheinland und Westfalen ein. Die rund 4.500 Titel sind nicht nur für Forscher verschiedener Disziplinen ein reicher Schatz, auch für interessierte Laien ist der Bestand gut zugänglich. Im Internet kann man über eine leicht zu bedienende Suchmaske etwa den Namen einer Stadt oder eines Dorfes eingeben und stößt dann auf eine riesige Trefferzahl von Büchern und Fachzeitschriftsartikeln, teilweise sogar mit detaillierten Inhaltsangaben.

Das Institut pflegt zudem lebendige Kontakte mit jüdischen Institutionen in Israel, den USA und den europäischen Nachbarländern. Den akademischen Brückenschlag vollzieht Institutsleiter Michael Brocke, der zugleich als Professor für Jüdische Studien an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität unterrichtet und Gastprofessuren in Jerusalem, Los Angeles und Bloomington inne hat. Gegründet hat der 1940 im pfälzischen Frankenthal geborene Philologe das Institut im Jahre 1986.

Mit der Entwicklung seines Instituts, das den Namen des fast in Vergessenheit geratenen Gelehrten und Kämpfers für die Emanzipation der Juden Salomon Ludwig Steinheim (1789-1866) trägt, kann Brocke zufrieden sein. Vor zwei Jahren wurde es vom NRW-Wissenschaftsrat extern evaluiert. Das Ergebnis fiel ausgesprochen positiv aus. Ein eigenständiges, überzeugendes Profil, ein hoher ethischer Impetus, eine sehr gute Qualität der Publikationen, sehr sinnvolle Forschungsschwerpunkte und eine gute Drittmitteleinwerbung wurden dem Institut unter anderem bescheinigt.

“Die Evaluierung hat uns zwar sehr viel Renommee gebracht, gesichert ist unsere Existenz damit aber noch lange nicht“, weiß Brocke, der immerhin sechzig Prozent des Finanzbedarfs aus Drittmitteln, etwa von der Volkswagen-Stiftung, der Krupp-Stiftung oder der Deutschen Forschungsgemeinschaft bestreitet. „Von Kollegen hört man zwar immer mal wieder, mit unserem Forschungsschwerpunkt bräuchten wir uns ja wohl keine Sorgen zu machen, aber erstens stimmt das nicht und zweitens wollen wir uns über unsere Leistung qualifizieren und nicht einfach über das Thema.“

Eines dieser Alleinstellungsmerkmale ist der Umgang mit der hebräischen Schrift und Sprache. Sie ist der Schlüssel zu einer Vielzahl von Quellen bis ins frühe 20. Jahrhundert, die Historiker sonst kaum wahrnehmen – ohne zu wollen, zeichnen sie damit ein unvollständiges Bild der jüdischen Kultur in Deutschland. Neben den schriftlichen Zeugnissen darunter viele wertvolle Erstausgaben jüdischer Aufklärer wie etwa Moses Mendelssohn, hütet das Institut mit dem Gidal- und dem Goldstein-Archiv eine bedeutende Sammlung von Fotografien. Rund 3.000 Bilder zur Geschichte der Juden in Deutschland und Europa, die von dem berühmten Fotojournalisten Ignaz Nachum Gidal über Jahrzehnte entweder selbst aufgenommen oder gesammelt wurden, geben einen Einblick in eine längst untergegangene Welt. Der aus der Ukraine stammende Georg „Grischa“ Goldstein, Arzt und passionierter Fotoamateur, dokumentierte mit seinen Aufnahmen vor allem die frühen Jahre neuen jüdischen Lebens in Palästina zwischen 1936 und 1953. „Mit den Archiven“, so Prof. Michael Brocke stolz, „sind wir bundesweit für Publizistik und Wissenschaft in diesem Themenfeld der wichtigste Bildlieferant.“