: Geschichten, die das Leben schrieb
In der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte hat sich ein Wandel vollzogen. Das zeigte eine Tagung in Elmau
Lange Zeit stand in der Forschung über Felix Mendelssohn-Bartholdy dessen jüdische Herkunft im Zentrum. Bis vor kurzem ein Wissenschaftler den Vorwurf der Verfälschung erhob: Mendelsohn-Bartholdy (der immerhin als Wiederentdecker der Matthäus-Passion gilt) sei im Alter von sechs Jahren protestantisch getauft worden, seine Musik müsse folglich im lutherischen Kontext interpretiert werden. Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, doch die Geschichte ist symptomatisch: In der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte hat sich in jüngerer Zeit ein Wandel vollzogen. Er zeigte sich auf der Konferenz „Ein Umdenken in der deutschen und jüdischen Kultur- und Ideengeschichte“, die die Historiker Steven Aschheim (Israel) und Anson Rabinbach (USA) nun auf Schloss Elmau organisierten.
Erzählt wurde die Geschichte der gewandelten Mendelssohn-Rezeption von dem amerikanischen Historiker Michael Steinberg. Versammelt hatten sich Wissenschaftler aus drei Ländern (Amerika, Israel und Deutschland) und zwei Generationen. Während die Vertreter der „älteren“ Generation (darunter Sander Gilman, Dan Diner, Reinhard Rürup, Shulamit Volkov, Moshe Zimmermann) die allgemeine Entwicklung analysierten und kommentierten, lieferten die „Jüngeren“ Beiträge aus der eigenen Forschung. Wie kam es, so die allgemeine Frage dahinter, dass in der europäischen Gesellschaftsgeschichte der Nachkriegszeit der Holocaust weitgehend ausgespart geblieben ist? Und welche Folgen hat die neuerliche Stärkung der Kulturgeschichte, die auch in Deutschland zu beobachten ist?
Jahrzehntelang, so war man sich einig, habe in der Forschung der deutsch-jüdischen Beziehungen die Perspektive der Emigranten (emigrant synthesis) dominiert: Es ging um den Beitrag der Juden zur deutschen Geschichte und um das Scheitern von Emanzipation und Assimilation trotz aller Verbindungen, die über die Jahrhunderte gewachsen waren. Diese Beitragsforschung, so Moshe Zimmermann aus Jerusalem, habe sich erschöpft; die jüngere Generation sei nunmehr dabei, die jeweiligen nationalen Narrative, Debatten und Spannungen ihrer Länder in ihre Forschung hineinzuweben. Dass dem so ist, zeigten etwa der Vortrag über die verschiedenen Strategien der bundesdeutschen Entschädigungspolitik (Yfaat Weiss/Haifa) oder der Vortrag über Rationalität und Irrationalität im Weimarer Filmschaffen (Ofer/Jerusalem).
Einig war man sich in der Analyse, dass die Gesellschaftsgeschichte als ein Ansatz des Kalten Krieges anzusehen sei, der den Nationalsozialismus neutralisiert habe. Durch den Mauerfall, so Dan Diner, seien die Räume und Erinnerungen der Vorkriegszeit und somit auch die Erinnerung an die Zerstörungen wieder virulent geworden. Hinzu komme, so Anson Rabinbach, der gerade in Amerika eine erste große Zusammenstellung von Dokumenten der Nationalsozialisten herausgibt, die Scheu der Deutschen, durch Zitate und Dokumente den Nazis eine (womöglich propagandistisch wirksame) Stimme zu geben.
Während die große Zeit der Kulturgeschichtsforschung im Amerika der 50er- und 60er-Jahre (Peter Gay, Fritz Stern, Georges Mosse) als Nachhall des Roosevelt’schen Liberalismus gelesen werden könne (so Rabinbach), sei die Gesellschaftsgeschichte in Deutschland hauptsächlich von der Sonderwegthese geprägt gewesen (Rürup), die allerdings die Frage nach der Judenvernichtung lange ausgespart habe.
Die „Jüngeren“ erzählten Geschichten, die das Leben in Deutschland geschrieben hat. Vorgestellt wurden ideengeschichtliche Forschungen, etwa über den Luisenkult und seine politische Funktion im Spätwilhelminismus (Eva Bremner, Princeton). Doch es dominierten kulturwissenschaftliche Themen, deren fremder – mehrheitlich amerikanischer – Blickwinkel für bundesdeutsche Zuhörer mitunter einen eigenen Charme besaß. Glen Penny (USA) berichtete über die Indianerrezeption in West- und Ostdeutschland, und Sharon Gillerman (ebenfalls USA) erzählte die Geschichte des „Muskeljuden“ und Zionisten Sigmund Breitbart, den der Zirkus Busch 1919 im polnischen Lodz anheuerte. Man warb damals mit Plakaten auf Jiddisch, um das ostjüdische Publikum anzuziehen: Eines der Zentren des „ganz normalen“ Kulturlebens der Weimarer Zeit setzte, so Gillerman, folglich bewusst auf kulturelle Nicht-Assimilation, was hierzulande noch selten zur Kenntnis genommen wird.
Die jüngere Generation zeigte bei aller Ernsthaftigkeit des Themas, dass die derzeitige Rückbesinnung auf Kultur- und Ideengeschichte mit Leichtigkeit geschieht. MARIE LUISE KNOTT