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Archiv-Artikel

Der entspannte Professor

AUS SEOUL UND PEKINGGEORG BLUME

Song Du Yul trägt einen schwarzen Nadelstreifenanzug. Er ist ganz der gepflegte Soziologieprofessor, den man aus Münster kennt, wo er Vorlesungen hält. Aber Münster ist weit weg. Und dieser holzvertäfelte Saal ist kein Hör-, sondern ein Gerichtssaal, denn hier findet keine Vorlesung statt, sondern der Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofes in Seoul. Da sind die drei Richter in ihren dunkelvioletten Roben, vor denen sich Song höflich verbeugt. Rechts von ihnen haben zwei Staatsanwälte Haltung angenommen. Das halbe Dutzend Verteidiger hat sich unter das Publikum gemischt, wo auch der deutsche Botschafter Platz genommen hat, und wartet auf die Verkündung. So deutet zur anberaumten Zeit des Gerichtstermins wenig darauf hin, dass an dieser Stelle in Kürze einer der größten politischen Schauprozesse zu Ende geht, den Südkorea seit der Demokratisierung im Jahr 1987 erlebt hat.

Song Du Yul ist derjenige, den die südkoreanischen Zeitungen noch vor wenigen Monaten den „größten Spion, der jemals gefangen wurde“, nannten: also ein mutmaßlicher Schwerverbrecher des Kalten Krieges auf der koreanischen Halbinsel. Einer, der es wagte, den Diktatoren des Nordens, Kim Il Sung und seinem Sohn und Nachfolger Kim Jong Il, mehrfach zu begegnen, lange bevor es die südkoreanische Sonnenscheinpolitik gegenüber dem Norden gab. Und der auch heute noch, vor Gericht, dazu steht, weil er sich als „Vermittler zwischen Nord und Süd“ versteht.

Noch am Morgen des Urteilstags gibt sich die Frau des Angeklagten verzweifelt. Song Chong Hae, die wie ihr Mann die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, berichtet von Haftbedingungen, die „nicht auszuhalten“ seien. Seit neun Monaten lebe ihr Mann in einer Drei-Quadratmeter-Zelle, 24 Stunden am Tag werde er von einer Neonlampe bestrahlt, besitze keine Möbel außer einer Decke, müsse bei ohnehin angeschlagener Gesundheit seit Wochen ohne Kühlung die heißen koreanischen Sommertemperaturen unter einem Wellblech ertragen. „Jede Minute ist jetzt zu viel für ihn“, sagt die Ehefrau und weiß sich keinen Rat.

Ebenso düster sieht der deutsche Prozessbeobachter Hans-Eberhard Schultz von der Rechtsanwaltskammer Berlin die Lage: Song Du Yul müsse „typische Formen der Folter“ ertragen. Schultz spricht von den psychischen Langzeitfolgen permanenten Schlafentzugs, deretwegen er erst vergangene Woche beim Auswärtigen Amt in Berlin protestiert habe – ohne in der Sache Antwort zu erhalten.

Eine 2.000-seitige Anklage

Noch am Montag hat Song Chong Hae deshalb den deutschen Botschafter in Südkorea aufgesucht. Doch auch der kann das Verfahren gegen ihren Mann nur als „innere Angelegenheit Südkoreas“ werten. Empört ruft sie daraufhin bei Jürgen Habermas in Starnberg an. Habermas ist Doktorvater ihres Mannes, hat ihn einen „untadeligen Wissenschaftler“ genant und einen Aufruf zu seiner Freilassung verfasst. Doch was kann der Meisterphilosoph mehr tun?

Song Chong Hae hat gestern Morgen bereits resigniert: „Die dritte Instanz wird weitere acht Monate in Anspruch nehmen.“ Sie wähnt sich für weitere 240 Tage auf dem täglichen Weg ins Guchiso-Untersuchungsgefängnis in Seoul. Der Gedanke, dass die drei Richter in den violetten Roben schon am Nachmittag den Angeklagten in ihre Arme entlassen würden, kommt ihr nicht.

Woher soll sie auch Hoffnung nehmen? Noch immer umweht den mächtigen Gerichtsbau im Süden Seouls, geschmückt nur mit dem alten Nationalsymbol, der Mugungwha-Blume, die Aura der Diktatur. Zwar wählen die Südkoreaner seit 1987 ihren Präsidenten in freier Wahl. Doch Gesetze und Richter blieben die gleichen. So konnte es zwar geschehen, dass die deutsche Familie Song – Mann, Frau und zwei Söhne – nach drei Jahrzehnten eines unbehelligten Daseins in Berlin und Münster im September 2003 erstmals wieder in Südkorea eintraf. Aber Song Du Yul wurde sofort vom Geheimdienst gestellt und wenig später verhaftet. Drei Monate später lag eine 2.000-seitige Anklageschrift gegen ihn vor.

„Song ist nach Südkorea gekommen, weil das Land von außen so demokratisch aussieht. Aber im Inneren regieren immer noch die alten Kräfte“, sagt Kang Chang Il. Anders konnte sich der Parlamentsabgeordnete der im Frühjahr siegreichen Uri-Partei von Staatspräsident Roo Moo Hyun das Verfahren gegen Song nicht erklären. Kang ist ein alter Kampfgenosse Songs aus der gemeinsamen Inselheimat Cheju, sein Sekretär ist mit Song verwandt. Song flüchtete vor der Diktatur 1967 ins deutsche Exil, Kang ging im Kampf gegen sie für Jahre ins Gefängnis. Andere Uri-Abgeordnete schweigen, doch einer wie er vergisst nicht, was Song geleistet hat: „Als Wissenschaftler erfand Song eine neue Methode der Annäherung zu Nordkorea. Weil unsere Sichtweise auf den Norden so eingeschränkt war, schuf er uns damit eine neue Weltanschauung“, sagt Kang zurückblickend.

Die Rede ist vom so genannten „systemimmanenten Forschungsansatz“ des DDR-Forschers Peter Christian Ludz, den Song – als Erster überhaupt – auf Nordkorea anwandte. Das bedeutete, den Norden aus sich selbst heraus und nicht im Vergleich mit dem Süden zu analysieren. Und wie einst in den Siebzigerjahren in Westdeutschland legte der neue Forschungsansatz auch in Südkorea einen wichtigen Grundstein für die ab 1998 vom späteren Friedensnobelpreisträger Kim Dae Jung verfolgte Entspannungspolitik.

Dabei verzichtete Song vom wissenschaftlichen Standpunkt aus auf Kritik an Nordkorea. Nie hat Song in der Öffentlichkeit über die systematischen Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea gesprochen. Das nehmen ihm seine Kritiker bis heute übel: „Songs immanente Kritik täuscht einen Blick von innen vor, der zu einer angeblich besseren Sicht auf Nordkorea führt“, sagt Kang Chul Kwan, ein ehemaliger politischer Häftling Nordkoreas, der in den Süden fliehen konnte. Kang verbrachte Jahre im nordkoreanischen Gulag und hält Song vor: „In Wirklichkeit ist Nordkorea im Inneren nicht besser, sondern viel schlimmer, als man von außen sieht.“

Verbotene Kontakte

Doch weiß auch der ehemalige Gulag-Häftling: „Es kommt nicht darauf an, Song hinter Gitter zu bringen.“ Vor Gericht sagten in den letzten Wochen gerade akademische Gegner Songs für dessen Meinungsfreiheit aus. Bis gestern stand ihr aber das nationale Sicherheitsgesetz Südkoreas aus dem Jahr 1948 im Wege, welches alle nichtautorisierten Kontakte zum feindlichen Norden unter hohe Strafen stellt.

Wie lange hat Song schon gegen dieses Gesetz angeschrieben? Dreißig Jahre. Immer sah er sich dabei als moralischer Sieger, nun glaubte er sich plötzlich auf der Verliererseite. „Sehr deprimierend“ sei die Haft, berichtet Häftling Nummer 65 im Guchiso-Gefängnis. Ein paar Tage ist das her. Vom gestandenen Professor ist da im hellblauen Sträflingsanzug schon nicht mehr viel übrig geblieben. Zwar gibt Song dem Gefängnisbesucher gegenüber vor, „im Kopf zu speichern, was er draußen schreiben werde“. Doch die Hoffnung aufs Draußen ist schwach. Zu sieben Jahren Freiheitsstrafe ist Song da gerade verurteilt worden.

„Seine Feder ist schärfer als ein Schwert“, hatte die Staatsanwaltschaft gegen ihn geklagt. Noch einmal wähnte man sie allmächtig. Denn klagten nicht alle großen Zeitungen des Landes mit ihr gegen Song? War nicht die Stimme des Präsidenten, der zunächst Milde für Song forderte, bald wieder unhörbar verklungen? „Staatsanwaltschaft, Geheimdienst, Rechtspresse“, zählt Songs Hauptanwalt Kim Hyoung Tae noch am Tag vor seinem größten Sieg die Gegner auf. Dann nennt er seine Unterstützer: „Die junge Generation, die fragt: Was hat Song Schlimmes getan? Wo ist das Problem?“

Südkoreas junge Generation, das weiß man seit den Parlamentswahlen im April, ist anders. Sie liest nicht mehr Zeitung, sondern im Internet. Sie ist gegen die Bevormundung durch die USA und für Gespräche mit Nordkorea. Sie wählt nicht mehr die konservative Nationalpartei, sondern die progressive Uri-Partei. Und sie ist natürlich für Songs Freilassung, jedenfalls sind alle wichtigen Internetmedien dafür.

Applaus am Gerichtshof

Die Familie Song kennt diese jungen Leute nicht, sie liest Zeitung und ist deshalb bis gestern pessimistisch. Doch dann hat es zwei geschlagen, und bald braust Applaus durch den Saal des Obersten Gerichtshofs. Das Gesetz müsse die Bürger schützen und dürfe ihre Meinungen nicht bestrafen, hebt der Richter an. Dann spricht er von einer historisch neuen Situation im Verhältnis zu Nordkorea, von einem Dialog mit dem Norden, der nunmehr offen geführt werden müsse. Da spielt es kaum eine Rolle mehr, dass Song am Ende doch noch verurteilt wird: zu drei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung, mit einer Bewährungszeit von fünf Jahren, wegen illegaler Besuche des Nordens.

Unklar bleibt, ob Song nach Deutschland ausreisen darf. Doch wen kümmert das noch? Am Nachmittag ist der vermeintliche Superspion ein freier Mann: Das Urteil sei „ein historischer Wendepunkt in Richtung eines Dialogs für die Wiedervereinigung“, verkündet Song bereits wieder in professoraler Haltung vor dem Journalistentross, der ihn gegen 17 Uhr am Ausgang des Guchiso-Gefängnisses empfängt. Zwar existierten die reaktionären Kräfte noch, sagt Song, aber der Konsens für eine neue Herangehensweise an die Politik gegenüber Nordkorea wachse. Wieder kein Wort der Kritik an den Diktatoren. Doch das gibt es anderswo zu hören. Mit Song ist Südkorea gestern wieder ein Stück freier geworden.