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Archiv-Artikel

Leibwache im Moor

von der Esterweger Dose Imke Schridde

Gleich hinterm Küstenkanal, zwischen Friesoythe und Papenburg beginnt der Mars. Oder irgendein anderer unerforschter Planet. Braune Hügel, Krater, Gräben – so weit das Auge reicht. Die einzigen Farbtupfer: metallisch-blau schimmernde Libellen. Nein, halt: Auf einem der Erdwälle hockt ein rotes Etwas. Regungslos im gleißenden Sonnenlicht.

Von nahem und nach einem beschwerlichen Fußmarsch durch weichen, braunen Matsch entpuppt sich das Etwas als die Landschaftsentwicklungs-Studentin Ute Hauptreif. In knallrotem T-Shirt, Shorts und dicken Wanderschuhen, Rucksack umgeschnallt, hockt sie auf dem Wall. Den Blick durchs Fernglas gerichtet. 30 Tage dieses Sommers hat sie bislang auf dem Torfabbaugelände der so genannten Esterweger Dose verbracht. Mit der Brut-Bewachung und -Rettung eines in Mitteleuropa nahezu ausgestorbenen Vogels, dem Goldregenpfeifer.

Hier, in dem ehemaligen Hochmoor-Gebiet, haben die allerletzten drei Brutpaare dieser Vogelart in Mitteleuropa gebrütet – und versuchen jetzt, mit Hilfe des körperlichen Einsatzes von Studierenden und einem Diplom-Biologen, ihre Jungen durchzubringen. Zwei von insgesamt sechs noch lebenden Küken haben es bereits geschafft. Sie können jetzt fliegen und müssen von nun an auf sich selbst aufpassen. Sie dahin zu bringen ist gar nicht so leicht. Denn es lauern zahlreiche Gefahren.

Eben noch hat Hauptreif von Turmfalken erzählt und von Wanderfalken – die auch für die Goldregenpfeifer-Eltern gefährlich werden können, weil sie im Flug angreifen. Urplötzlich springt die Studentin auf, läuft los, rennt. Sie rennt, als ginge es um ihr eigenes Leben. Den Hang hinunter, sie stolpert, fällt in den nassen Torf, rappelt sich auf, schmeißt den Rucksack ab, rennt weiter. „Hau ab“, ruft sie, „Ksch ksch“. Sie fuchtelt mit den Armen und schmeißt Torf in die Luft. In Richtung des Greifvogels, der noch hoch oben ruhig auf der Stelle flattert. Im Hintergrund ist ein schrilles Pfeifen zu hören, ähnlich dem elektronischen Fiepton eines vergessenen Handys.

Ein paar Minuten später kommt die Lebensretterin keuchend zurück. Der Feind hat sich aus dem Staub gemacht. Sie hat den Raubvogel nicht sofort gesehen. Aber die fiependen Schreie des Goldregenpfeifer-Männchens haben sie hellhörig gemacht. Der Vogel-Papa sitzt auf dem Kamm des gegenüberliegenden Torfwalls und hat alles im Blick. Auch er will seine Küken beschützen, die einige Meter unter ihm in den Unterbütten des Torfabbaugeländes nach Nahrung suchen.

Auf den Unterbütten, den bereits abgetorften Bereichen des Geländes, brüten die bedrohten Vögel auch. Der Goldregenpfeifer braucht den Überblick. Deshalb galt er ursprünglich als typischer Bewohner der Hochmoore mit ihrer nur knöchelhohen Vegetation, die früher in Nordwestdeutschland weit verbreitet waren. Durch den Torfabbau in den Jahrtausende alten Mooren geriet sein Lebensraum ab Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch buchstäblich unter den Pflug. Der Vogel mit dem goldgelb gesprenkelten Rücken wusste sich zwar anzupassen und brütete in den Abbaugebieten weiter. Aber je mächtiger und schneller die Maschinen wurden, desto schlechter konnte er seinen Nachwuchs durchbringen. „In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es hierzulande nur noch 30 Paare“, sagt Axel Degen, Projektleiter des vom niedersächsischen Umweltministeriums finanzierten Projekts zur Rettung der Goldregenpfeifer. In den vergangenen Jahren sei ihre Anzahl dann immer weiter geschrumpft. Zum einen vermehrt sich der Fuchs, ein weiterer natürlicher Feind des Goldregenpfeifers, wegen der Tollwut-Impfungen prächtiger als je zuvor. Zum anderen gab es jahrelang kein Ankommen gegen die Interessen der Land- und Torfwirtschaft. Auch in der Brutzeit wurden die Unterbütten platt gewalzt. Das Ziel: jedes Pflänzchen im Keim zu ersticken, damit kein Pollen auf dem Torf landet.

Dadurch sei es viel schwerer, in den kargen Torfabbau-Bütten, die durch die aufgeschütteten Torfwälle voneinander abgetrennt sind, Nahrung zu finden, sagt Degen. Die Küken – Nestflüchter, die sich von ihren Eltern nicht füttern lassen – müssen heute von Bütte zu Bütte laufen, um ihren Hunger zu stillen. Die Bütten sind immerhin an die zwei Kilometer lang und von Torfwall zu Torfwall etwa 200 Meter breit.

Wer hier Goldregenpfeifer schützen will, muss sie erst einmal finden. Degen ging das insgesamt 5.000 Hektar großen Areal im Frühjahr Meter für Meter ab. Um die drei Nester, die er fand, spannte er Elektrozäune, baute Gelegekorb-Schutze gegen Krähen und installierte Duft-Kanonen, um Füchse fernzuhalten. Auch damals saßen bereits Studis in der Nähe, bewachten das Nest, lasen die Temperatur ab, verzeichneten, wie oft die Eier gewendet wurden und wann die Vogel-Eltern beim Brüten Schichtwechsel machten. Ordnung muss sein.

„Da konnte man wenigstens nebenbei noch lesen“, sagt Ute Hauptreif. Immer einen Absatz, und dann wieder ein Blick zum Nest. Jetzt kann man jegliche Nebenbeschäftigung vergessen. Einen Moment nicht aufgepasst – und die Küken sind über alle Berge. Nach den vielen Stunden einsamen Wachens ist Hauptreifs Blick erstaunlich geschult. Auch ohne Fernglas sieht sie die jetzt fast ausgewachsenen Jungvögel auf 50 Meter Entfernung.

All das Bewachen, stöhnt sie lachend – nur um dann vielleicht später irgendeinem französischen Gourmet eine Gaumenfreude zu bereiten. In Südfrankreich, wo die Tiere ihr Winterquartier haben, ist die Jagd auf sie nämlich noch nicht verboten.

Cool bleiben ist oberstes Gebot der Wachen, auch beim Hinterher-Rennen. „Man läuft schon mal bis zu zehn Kilometer am Tag“, sagt Hauptreif. Die Küken werden rund um die Uhr bewacht, drei Schichten à acht Stunden. „Mit ihren langen Beinen sind die super-flink“, musste Hauptreif erfahren. „Das kann dann echt stressig sein, vor allem wegen der Verantwortung.“ Das Überleben der nächsten Generation Goldregenpfeifer hängt auch von ihr ab.

Inzwischen laufe aber auch die Kooperation mit den Torffirmen gut, sagt der Koordinator Degen. Nur noch einmal im Jahr glätten und „reinigen“ diese die Bütten jetzt. Zur Zeit ist der Abbau-Betrieb eingestellt. Nicht wegen der Vögel. Sondern weil bereits eine große Menge Torf eingefahren wurde. Auch gegen die Füchse wurden Maßnahmen ergriffen. Den Jägern werden Jagdhilfen zur Verfügung gestellt.

22 Uhr, Schichtwechsel. Eineglückliche Goldregenpfeifer-Mutter verlässt das Schlachtfeld. Abgekämpft. Vertorft und sonnenverbrannt. Aber glücklich. Wankend Richtung Bett. Keine Angst. Sie kommt wieder. Morgen um die gleiche Zeit. Auf ihren Torf-Planeten.