: Der Vorgang 9/11
Der überraschend ausgewogene Abschlussbericht zu den Anschlägen vom 11. September liegt vor
AUS WASHINGTONMICHAEL STRECK
Die vom US-Kongress eingesetzte Untersuchungskommission zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat ihren Abschlussbericht vorgelegt. Überraschungen sind ausgeblieben. Die wichtigsten Ergebnisse wurden bereits in den vergangenen Monaten in 17 Zwischenberichten veröffentlicht.
Demnach haben es die Regierungen von Bill Clinton und George W. Bush versäumt, die Bedrohung durch das Terrornetzwerk al-Qaida zu erkennen. Bush war zu sehr auf den Irak fokussiert, sodass er den Antiterrorkampf vernachlässigte. Die heimische Flugabwehr versagte am Tag der Anschläge, die entführten Maschinen zu stoppen. Und: Zwischen dem früheren irakischen Diktator Saddam Hussein und den Attentaten auf New York und Washington hat es keine Verbindung gegeben.
Tausende Zeugenaussagen
Knapp zwei Jahre lang haben die zehn Kommissionsmitglieder, je zur Hälfte Republikaner und Demokraten, rund zwei Millionen überwiegend vertrauliche Dokumentenseiten gesichtet und tausende Zeugen befragt. Auch Bush, sein Vize Dick Cheney, viele andere Kabinettsmitglieder und Teile der Regierungsmannschaft von Bill Clinton wurden in den Zeugenstand gerufen. Tagelang beherrschten ihre öffentlichen Aussagen im Frühjahr die Medien. Ihre Auftritte wurden live im Fernsehen übertragen. Dabei dürften denkwürdige Momente wie jener manchen Amerikanern in Erinnerung bleiben, als die immer weiter bohrenden Fragen an Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, wann und wie Bush von möglichen Al-Qaida-Anschlägen unterrichtet worden sei, zu Tage förderten, dass der Präsident im August 2001 vor einem Anschlag innerhalb der USA gewarnt worden war.
Um den öffentlichen Eindruck der – nunmehr erwiesenen – weitgehenden Tatenlosigkeit zu vermeiden, hatte sich das Weiße Haus anfangs mit Händen und Füßen gegen die Einrichtung der Kommission gestreubt. Nur massiver Druck seitens der Opposition und der Bevölkerung, vor allem der Familienangehörigen der Anschlagsopfer, führten zur Einrichtung der Kommission. Auch wenn ihre Arbeit im Zeichen deutlicher Differenzen zwischen Demokraten und Republikanern zum Ermittlungsverfahren und bei der Interpretation der gewonnenen Erkenntnisse stand, gilt der nun vorgelegte 575-Seiten-Bericht als bemerkenswert überparteiliches Werk.
Das Gremium geht nicht so weit, die wohl zentrale Frage, ob die Anschläge hätten verhindert werden können, ultimativ zu beantworten. „Es gab sicher eine Reihe von Gelegenheiten, die nicht genutzt wurden. Einige werden daraus schließen, dass sie hätten verhindert werden können. Andere werden meinen, sie hätten vielleicht vereitelt werden können. Und der Rest wird sagen, dies sei unmöglich festzustellen. Unserer Auffassung nach können wir dies nicht abschließend beantworten“, sagte ein Kommissionsmitglied der Washington Post.
Die Kommission hat sowohl der Bush- als auch der Clinton-Regierung exakt zehn verpasste Chancen nachgewiesen, die Pläne für die Attentate rechtzeitig aufzudecken. Vier davon sollen in die achtjährige Regierungszeit von Clinton, sechs in die nur neunmonatige Amtszeit von Bush junior gefallen sein. Eine dieser Möglichkeiten hätte sich nach der Festnahme von Zacarias Moussaoui, dem mutmaßlichen 20. Flugzeugentführer, im August 2001 in den USA ergeben. Die Ermittlungen des FBI gegen den verdächtigen Flugschüler versandeten, die Polizei konnte nicht einmal eine Hausdurchsuchung erwirken. Später fand man in seinen Unterlagen Spuren zu al-Qaida.
Neu im Fokus: der Iran
Neben dieser neuen Enthüllung sorgte ein weiterer Fund aus dem Bericht in den vergangenen Tagen in Washington für erneute Unruhe. Zehn Flugzeugentführer seien vor den Anschlägen durch den Iran gereist. Grenzbeamte dort hätten bei ihrer Ausreise Anweisung erhalten, ihre Pässe nicht abzustempeln. Ferner gewährte der Iran Al-Qaida-Mitgliedern nach dem 11. September Unterschlupf. Insgesamt seien die Beziehungen zwischen der Terrororganisation, dem Iran und den von Teheran unterstützten Hisbollah-Milizen langfristiger und enger gewesen als zum Irak, auch wenn es keine Hinweise gebe, dass die iranische Regierung wissentlich in die Anschläge verwickelt gewesen sei. Dieses Fazit untergräbt einmal mehr den Hauptgrund der Bush-Regierung für die Invasion im Irak, Saddam Hussein habe mit al-Qaida gemeinsame Sache gemacht.
Ein zentraler Kritikpunkt des Berichts richtet sich an die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Auslandsspionage-Abteilungen und deren Vernetzung mit der Bundespolizei FBI. Die Kommission schlägt daher eine umfassende Reform der US-Nachrichtendienste vor, geht jedoch nicht so weit, einen eigenen Inlandsnachrichtendienst zu fordern. So sollen künftig bei einem Geheimdienstkoordinator im Kabinettsrang die Fäden aller 15 Auslandsnachrichtendienste, die meisten davon im Pentagon angesiedelt, zusammenlaufen.
Die Idee ist nicht neu. Der jeweilige CIA-Direktor ist bereits auf dem Papier für alle anderen Geheimdienste zuständig. In der Praxis kam es jedoch vor allem zwischen dem mächtigen Pentagon, das über den größten Etat verfügt, dem Außenamt und der CIA stets zu Kompetenzgerangel. Doch diesmal sehen Experten gute Chancen für eine echte Personalunion. Angesichts des Endspurts im Wahlkampf und des Versuchs, sich gegenseitig darin zu überbieten, wer nun das bessere Rezept zur Nationalen Sicherheit hat, dürfte es für Bush und seinen demokratischen Herausforderer Kerry schwer werden, sich diesem Vorschlag zu widersetzen.
Inwieweit der Bericht, der weder Clinton noch Bush die Verantwortung für die Tragödie vom 11. September zuschreibt, den beiden Parteien im Wahlkampf Munition liefern kann, bleibt abzuwarten. Beide Seiten werden herauslesen, was sie lesen wollen. Die Demokraten werden dem Weißen Haus ankreiden, brisante Passagen vor der Veröffentlichung bearbeitet zu haben und Bush in seinen ersten Amtsmonaten Ignoranz vorhalten. Und die Republikaner werden die Last auf institutionelles Versagen und Clintons Unwillen, gegen al-Qaida militärisch vorzugehen, abwälzen.