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Archiv-Artikel

Hospitalität

Kurzer Blick in ein Kinderhospiz

VON GABRIELE GOETTLE

Sabine Sebayang, Kinderkrankenschwester u. stellvertr. Pflegedienstleiterin im Kinderhospiz „Sonnenhof“ Berlin. Einschulung 1971 in Kellinghusen, 1984 Abitur. 1984–1987 Ausbild. z. Kinderkrankenschwester an der Christian-Albrecht-Univ. Kinderklin. Kiel u. an der Kinderklin. Rittbergkrankenhaus Berl. 1988–1991 Univ. Kinderkl. Berl. Charlottenb. (Kinderonkologie), 1991/92 Weiterbild. z. Fachschwester (Onkologie), 1992/93 Kinderonkologie Virchow-Klinik, Berlin. 1994 Geburt d. Tochter (1 Jahr Erziehungsurl.). 1995–1998 Kinderonkologie Virchow-Klinik. 1999 Geburt d. Sohnes (1 Jahr Erziehungsurl.). Seit Anfang 1999 ehrenamtlich tätig f. d. Björn-Schulz-Stiftung u. Mitaufbau d. Kinderhospizes. 2000–2002 onkolog. Tageskl. Virchow-Klinik, Zusatzausbild. in Palliative Care. Ausbild. z. Familienbegleiterin, ab Dez. 2002 Festanstellung i. Kinderhospiz „Sonnenhof“. Sabine Sebayang wurde 1965 in Pinneberg geboren, ist verheiratet und hat 2 Kinder.

In Zeiten einer desaströsen und zynischen Sozialpolitik wird den Schwächsten unter der Hand der Garaus angedroht. Nichtsnutze sind nicht mehr finanzierbar, sie sollen ihr Existenzrisiko selber tragen. Schwerkranken und Sterbenden wird zwar vorerst noch unter die Arme gegriffen – schon deshalb, weil sie in der letzten Lebensphase 60 Prozent der jährlichen Gesundheitskosten, mehr als 130 Milliarden Euro, in die Kassen der Gesundheitsindustrie fließen lassen – aber die Fachleute arbeiten bereits an der Reduzierung von Ansprüchen und Kosten. Für Schwerkranke und Sterbende erhöht sich der ohnehin schon enorme soziale Druck. Sie sollen es nicht mehr nur möglichst diskret, sondern rechtzeitig, also möglichst bald zu Ende bringen. Preiswert und rationell. Kein Wunder, dass sich allerorten die scheinbar hilfreichen und verständnisvollen Stimmen mehren, die für „Sterbehilfe, Patientenverfügungen und Testamentsberatung“ plädieren, als adäquate Mittel, sich eines unwürdigen Sterbens selbstbestimmt zu entziehen. Man sähe es natürlich gern, wenn der ausgediente Bürger sich sozusagen den Gnadenschuss selbst gibt statt abzuwarten, bis diese peinliche Angelegenheit auf dem Verordnungsweg geregelt und begründet wird.

Die Hospizbewegung hat sich dem von Anfang an entgegengestemmt und um Alternativen zum medizinisch verwalteten und kontrollierten Sterben bemüht. In den Achtzigerjahren in Deutschland entstanden und am englischen Modell orientiert, ist sie heute eine bundesweit organisierte und gesellschaftspolitisch stark engagierte Kraft, mit einem enormen Heer aus ehrenamtlichen Helfern. Ein großer Erfolg der Bewegung war die Übernahme der Hospizarbeit ins Sozialgesetzbuch, als eine von den Krankenkassen anerkannte Dienstleistung. Dennoch liegt Deutschland innerhalb Europas stark zurück, was die Anzahl der Hospize betrifft, ganz besonders in der Anzahl der Kinderhospize. Derzeit gibt es in Deutschland sechs Kinderhospize.

Eines davon ist der „Sonnenhof“, das einzige Hospiz für schwer kranke und sterbende Kinder und Jugendliche in ganz Berlin und Brandenburg. Träger ist die Björn-Schulz-Stiftung – benannt nach Björn, der 1982 achtjährig an Leukämie starb, und nach seinen Eltern, die zusammen mit anderen betroffenen Eltern damals den Verein KINDERHILFE gründeten –, sie eröffnete im Dezember 2002 die erste derartige Einrichtung. Das Kinderhospiz verdankt sich privater Initiative und entstand auf der Basis von Spendengeldern, es erhält weder staatliche noch kommunale Zuschüsse und hat 12 Plätze. Ein erfahrenes und gut geschultes Team aus Schwestern, Pflegern, Sozialpädagogen, Psychologen sowie einem Koch und einem Hausmeister arbeitet extern mit Pädiatern, Palliativmedizinern, Physiotherapeuten, einem Seelsorger und an die 200 ehrenamtlichen Helfern zusammen. Geboten wird palliative, also umfassende und umsorgende Hilfe und Beistand für schwer kranke und sterbende Kinder und Jugendliche. Diese besondere Form der Gastfreundschaft umfasst das ganze Spektrum einer solchen Lebensphase, von der Schmerzbeseitigung bis hin zur Linderung alltäglicher und seelischer Probleme, und sie gilt nicht nur dem Erkrankten allein, sie gilt für Eltern und Geschwister.

Der „Sonnenhof“ liegt in Niederschönhausen, zwischen Gründerzeitvillen und Einfamilienhäusern, in einer schattigen Straße mit Linden und Kopfsteinpflaster. Die zwei miteinander verbundenen Schönbrunner-gelben Gebäude sind günstig von der jüdischen Gemeinde angemietet. Zu DDR-Zeiten dienten sie als jüdisches Altersheim, und zuvor, so bekundet eine Tafel an der Hauswand, waren sie ein jüdisches Waisenhaus, aus dem 1942 150 Kinder und Säuglinge in Vernichtungslager abtransportiert wurden. In der hohen, verglasten Eingangshalle steht zum Gedenken eine große schwarze Laterne mit brennender Kerze. Im Garten hinter dem Haus gibt es ein frisch angelegtes Biotop, geschwungene Wege, alte Bäume, ein Gartenhäuschen und einen kleinen Streichelzoo, in dem paarweise Esel, Ziegen, Schafe und Kaninchen leben, finanziert und versorgt durch die Tierschutzgruppe M.U.T. Es gibt einen großen Wintergarten voller Spielzeug, eine abseits gelegene kleine Trauerhalle zur Aufbahrung der Verstorbenen und im Souterrain ein Schwimmbad.

Schwester Sabine nimmt uns freundlich in Empfang. Sie führt uns durchs lichte Treppenhaus, hinauf zum Besprechungsraum und zeigt im Vorbeigehen eine der Elternwohnungen, ein hotelartig ausgestattetes großes Zimmer: „Drüben bei den Kindern ist die Einrichtung ähnlich privat, dort haben wir aber aus pflegetechnischen Gründen höhenverstellbare Krankenhausbetten.“ Schwester Sabine wirkt energisch, schenkt uns Kaffee ein und erzählt, wie sie ihren Vertrag mit der Charité löste – was ein großes Risiko war in schlechten Zeiten und angesichts eines ungewissen Hospizprojekts.

„Es ist schwierig mit zwei Kindern und einem Mann, der Taxifahrer ist, aber es hat mich sehr gereizt, und ich habe es keine Minute bereut. Im April 2003 haben wir die ersten Gäste aufgenommen – wir sagen hier Gäste statt Patienten –, und von Anfang an sollte unser Hospiz zugleich auch so eine Art Herberge sein. Das spiegelt sich eigentlich auch im Hospizparagrafen wider, da ist es so definiert, Hospizaufnahme nur dann, wenn eine Krankenbehandlung nicht nötig und eine Pflege zu Hause nicht möglich ist. Das Hospiz ist insofern einfach auch ein Lückenfüller, und so soll es auch sein! Trotzdem hat es ein Hospiz schwer, denn es entsteht plötzlich Konkurrenz … einerseits gehen dem externen Pflegedienst – der hat ja auch Finanzprobleme – diese Familien verloren. Bei einer Sterbepflege gibt es ja in der Regel so eine 24-Stunden-Pflege. Das ist viel Geld, was denen da verloren geht. Außerdem muss man sehen, dass diese 24-Stunden-Pflege teurer ist als bei uns. Andererseits blockiert die Klinik, die ja auch ihre Betten voll haben muss, und es blockieren natürlich die Ärzte, die häufig nicht nur ihren Heilauftrag erfüllen möchten, sondern einfach auch nicht aufhören können. Sie gehen nicht zu den Eltern und sagen, das Kind wird sterben, ich kann nichts mehr für es tun. Nein, sie sagen, ich hab hier noch einen Strohhalm, ich habe da noch ein Medikament, lassen Sie uns das Kind auf die Intensivstation legen und die Beatmungsmaschine anschließen, anstatt den Eltern die Wahrheit zu sagen, damit sie die Chance haben, ihr Kind in Ruhe und ohne Stress sterben zu lassen. Und weil ich das nicht mehr ausgehalten habe, deshalb bin ich ja hierher gegangen. Die Stimmung war bei vielen Medizinern eindeutig gegen ein Kinderhospiz. Wenn der Krebsdoktor von Berlin zum Beispiel sagt, wir brauchen kein Kinderhospiz, weil die krebskranken sterbenden Kinder bereits gut versorgt sind, dann ist dieses Wort selbstverständlich Gesetz.

Er ist natürlich ein Fachidiot – wie wir alle, letzten Endes – aber er wurde eben als Fachkompetenz vom Senat befragt. Eine andere Stimme, die mich damals sehr geärgert hat, war die Bürgermeisterin von Reinickendorf, die sagte in der Zeitung sinngemäß so in etwa, man wäre ja eine Rabenmutter, wenn man sein Kind ins Kinderhospiz gibt. Ich hätte sie am liebsten mal zur Rede gestellt: Wie kann sie das sagen?! Hat sie schon mal zehn Jahre lang so ein Kind gepflegt, ununterbrochen, 24 Stunden am Tag?! Das ist in England vollkommen anders, da ist das in Ordnung, und keiner würde mich eine Rabenmutter nennen, wenn ich mein Kind ins Kinderhospiz gebe, um etwa mal Urlaub zu machen. Das haben wir, Herr Schulz und die Eltern, damals dort gelernt, dass ein Kinderhospiz nämlich nicht ausschließlich ein Sterbehaus ist – wie die klassischen Hospize für die Erwachsenen –, sondern hier auch noch ganz andere Notwendigkeiten berücksichtigt werden müssen. Auch wenn die Diagnose, dass das Kind sterben muss, vorliegt, ist doch der Krankheitsverlauf oft unberechenbar, kann sich ellenlang hinziehen. Und wenn sich Eltern teilweise 24 Stunden mit dem Kind beschäftigen müssen – wie hier bei Tim, der gerade mit seinem Vater, unserem Koch, unten durch die Halle ging. Der schreit nächtelang durch, die Eltern tragen ihn auf ihren Armen die ganze Nacht durch die Wohnung, der ist vier – also dann brauchen diese Eltern, mindestens einmal im Jahr, so eine Art „Tankstelle“ zur Erneuerung ihrer Energie. Und auch dazu brauchen wir so ein Haus.“ Vom Garten her ertönen markerschütternde Schreie. Es ist Darwin, der Esel. Schwester Sabine trinkt einen Schluck und fährt fort:

„Nicht erst wenn das Kind stirbt, sondern auch schon zum Kraftschöpfen oder auch zwischendurch – auch das haben wir aus Großbritannien importiert – da machen wir „offenen Familientreff“, jeden Freitag, es kommen die Eltern zusammen zum Kaffeetrinken, zum Austausch, einfach auch nur so zum Plaudern. Da können sie dann schon mal zugeben, dass sie auch nur Menschen sind und manchmal Lust hätten, das Kind an die Wand zu klatschen, und wie sie’s dann hinkriegen. Wir bieten auch öfter Programme, zum Beispiel heute Nachmittag kommt eine ehrenamtliche Märchenerzählerin, wer will, kann unser Schwimmbad nutzen, einfach mal schwimmen kommen, so zwischendurch. Es ist alles kostenlos und ein Service des Hauses. Und das bestreiten wir aus Spenden, denn wir bekommen keinerlei Fördermittel, wir finanzieren uns hier nur von Spendengeldern und von dem, was die Kassen bezahlen müssen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen. Aber fürs Auftanken ist nichts vorgesehen. In England ist das geregelt, auch mit der Finanzierung. Und deshalb wollten wir immer, dass auch bei uns, in diesem Hospiztagessatz für ein Kinderhospiz, die Aufnahme zum Kräftesammeln mit drin ist. Also die Kinderhospize in Deutschland wollen das einfordern, dass es einfach mit drin ist und anerkannt wird, dass die Familien diese Entlastung bekommen, nicht nur in der Lebensendphase. Das Problem ist nämlich, dass es einfach zum Teil unter Kurzzeitpflege läuft, was Kinderhospize leisten, aber die Sätze der Kurzzeitpflege sind so, dass man damit ein Haus nicht finanzieren kann. Einige Kinderhospize, die nach uns gekommen sind, die haben beides drin. Aber es ist von Bundesland zu Bundesland anders geregelt, und wir sind jetzt im Moment dabei, das irgendwie hinzukriegen. Es ist eben so, dass immer nur die Hospize für Erwachsene zugrunde gelegt wurden, an Kinderhospize hat kein Mensch überhaupt nur gedacht, das ist etwas, was einfach vergessen wurde bei der Ausarbeitung der Gesetze.“

Draußen im Flur sind Stimmen zu hören, jemand schaut kurz herein und schließt die Tür sofort wieder. „Unsere Eltern“, sagt Schwester Sabine und fährt fort:

„Allein in Brandenburg und Berlin sterben jährlich etwa 400 Kinder an unheilbaren Krankheiten. Aber das sind natürlich nicht nur krebskranke Kinder, wie man vielleicht meint, das sind auch Kinder mit zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen, die man häufig in der Öffentlichkeit gar nicht registriert, obwohl sie weit verbreitet sind. Aber das ist oft ein schleichender Prozess, die Kinder werden ganz gesund geboren, werden dann irgendwann auffällig, ‚bauen ab‘, dann wird die Krankheit diagnostiziert, und von da an kann es Monate dauern oder auch Jahre, bis das Kind stirbt. Im Hospizparagrafen steht, dass Erkrankungen „lebenslimitierend“ sein müssen. Stoffwechselerkrankungen sind lebenslimitierend. Aber bis dahin ist es ein Prozess, bei dem das Kind körperlich und oft auch geistig verfällt, in dem es immer kränker wird, manche werden blind, taub, andere müssen wieder in die Windel machen, viele Körperfunktionen fallen aus bei vollem geistigen Bewusstsein. Wir haben auch Jugendliche hier, die ihren Verfall bewusst miterleben, über lange Zeit. Wir haben aber auch ein junges Mädchen mit Mukoviszidose, dem man erst mal kaum was ansieht, und auch sie hat eine lebenslimitierende Krankheit. Das ist unsere Kundschaft. Und uns geht es eben darum, dass die Familien – so wie wir das in Großbritannien gelernt haben – hier diese sichere Insel haben, auf die sie schon vielleicht Jahre vor dem Sterben des Kindes kommen können. Die Familien kennen uns, sie kennen sich gegenseitig. Da entsteht auch eine große Familie, in der man viel gemeinsam machen kann, was man sonst einsam zu Hause hinkriegen müsste, bis hin zum Sterben. Wer will, kann das dann hier in vertrauter Umgebung, gemeinsam mit dem vertrauten Personal, gemeinsam mit den anderen Familien machen. Und wer das nicht will, den unterstützen wir mit unserem ambulanten Dienst so weit, dass sie das Sterben zu Hause selber schaffen. Es gibt ja in der Hospizbewegung ganz allgemein eigentlich den Anspruch: ambulant vor stationär. Aber entscheiden muss das jede Familie für sich selbst.“

Wir bitten um ein paar Beispiele. Schwester Sabine überlegt kurz und sagt: „Ich nehme mal ein klassisches Hospizkind, das eigentlich genau unserem Anspruch entsprach. Der Junge ist letztes Jahr im November zu uns gekommen, acht Jahre alt, mit einem Hirntumor. Er hatte einen rasanten Krankheitsverlauf, ist akut in der Klinik aufgenommen worden…“

Wir unterbrechen und möchten es lieber etwas anschaulicher. Schwester Sabine lächelt geduldig und erklärt: „Also bei Kindern mit Hirntumoren ist es so, die haben Kopfschmerzen, bei Schulkindern ist es oft so, dass sich das Schriftbild verändert, ganz typisch ist morgendliches Erbrechen, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen. Doloblastom ist dann zum Beispiel die Diagnose. Bei dem Jungen wurde dann damals eine OP gemacht, es gab Komplikationen, eine zweite OP musste gemacht werden, und er ist ins Koma gefallen. Die Eltern hatten damals schon Kontakt mit uns, hatten sich das Haus angesehen, aber die Ärzte wollten mit der Therapie anfangen: Chemo- und Strahlentherapie…“

„Bei einem Kind, das im Koma liegt?“, vergewissern wir uns. „Ja, sie bombardieren das Kind mit Chemo- und Strahlentherapie, die ist bei diesem Tumor ziemlich aggressiv, das heißt, ein komatöses Kind hat dann auch noch Schleimhautzerfall, Schmerzen und all die Nebenwirkungen zu verkraften in diesem Zustand! Der allerschlimmste Fall wäre, das Kind wird trotzdem nicht gesund. Die zweite Möglichkeit wäre, das Kind hat zwar keinen Tumor mehr, bleibt aber im Koma. Es gibt sicher viele Varianten, die unwahrscheinlichste aber ist, dass das Kind aufwacht, der Tumor ist weg, es steht auf und alles ist in Ordnung. Die Eltern entschieden sich gegen die Ärzte.

Ich bewundere solche Eltern. Der Eric hatte eine ältere Schwester. Als es hieß, wir werden nicht die ‚Chemo‘ machen, der Eric wird sterben an dieser Erkrankung, da hat die Schwester protestiert – aber nicht zu Hause, das ertrage ich nicht. Daraufhin ist die ganze Familie hier eingezogen. Dem Jungen ging es damals sehr schlecht. Er brauchte zwar nicht mehr beatmet zu werden, aber er hatte so eine Trachealkanüle und hatte einen Schlauch im Bauch, worüber er sowohl ernährt als auch medikamentös und schmerztherapeutisch versorgt wurde. Die Eltern wollten ihr Kinder überwiegend allein pflegen…“

Der Esel schreit in lang gezogenen, jäh abbrechenden, hohen Tönen.

„Die Mutter war für uns eine Art Dolmetscherin für diese ganzen sensiblen Zeichen, die von ihm kamen. Er hatte zum Beispiel einen Hauch von Schweiß auf der Gesichtshaut gekriegt, und die Mutter sagte, er hat Schmerzen. Das war für uns verbindlich, und wir haben sofort gehandelt. Gute Palliativmedizin arbeitet ja mit Morphium, es muss kein schwer Kranker Schmerzen erleiden. Die ganze Familie war enorm engagiert, und sie brauchten das Haus hier im Prinzip vor allem zum Reden, zur Rückversicherung, ob sie auch alles gut und richtig machen, und eben auch mal, um Abstand zu gewinnen. Einmal sind sie doch tatsächlich ins Kino gegangen, in ‚Herr der Ringe‘. Eine Wahnsinnsleistung war das, sich loszureißen für einen Moment. Aber das geht nur deshalb, weil sie Vertrauen haben. Die zwölfjährige Schwester ging von hier aus zur Schule. Es war alles geregelt, alle waren bereit für das, was kommen musste. Der Eric starb aber nicht. Der Vater musste allmählich wieder arbeiten, also entschlossen sie sich, nach Hause zu gehen mit ihrem Kind. Sie hatten genug Stabilität und Sicherheit hier gewonnen und konnten sich das zutrauen, auch die Schwester war nun bereit. Es wurde ein Krankentransport bestellt, zu Hause alles vorbereitet, und schon war es geschafft. Das war im Januar. Gestorben ist Eric Anfang Mai. Und dieses Sterben insgesamt war eigentlich so, wie es sein soll. Die Familie ist hier stabilisiert worden, konnte sich ihrem Kind ohne Stress, ohne Druck, ohne Panik, etwas falsch zu machen, widmen. Dann konnten sie nach Hause gehen und ihren Jungen bei sich, in der vertrauten Umgebung ,sterben lassen.

Wir hatten jetzt am Wochenende Erinnerungstag, das ist ein Angebot von uns an die Familien der Verstorbenen. Das ist eine größere Veranstaltung, und es tut vielen Familien sehr gut. Es gibt aber auch Familien, da stirbt das Kind, und danach wollen sie nicht mehr hierher kommen. Die meisten kommen aber gerne, denn sie treffen hier auf Menschen, die ihr Kind kannten, und wo sie auch nach drei Jahren noch erzählen können, wie das damals war. Anderswo, da gähnen alle und sagen, das Leben geht weiter, können wir jetzt mal über was anderes reden?!

Bei uns hier im Haus treffen oft ganz unterschiedliche Menschen aufeinander. Die einen haben mehr, die anderen weniger Geld, oder es gibt kulturelle, religiöse Unterschiede. Wir versuchen spirituell und auch materiell allen gerecht zu werden.“

Wir fragen, wie die Familien, die ja durch den Pflegesatz ihres Kindes nicht mit abgedeckt sind, ihren Aufenthalt hier berechnet bekommen.

Naja, das ist im Kinderhospizbereich ein klassisches Thema. Also wir nehmen nicht unbedingt Geld dafür – wie wir für vieles kein Geld nehmen, weil es sich einfach nicht umrechnen lässt in Geld. Wir haben da eine Büchse, und wenn zum Beispiel eine Familie, die Geld hat, mit fünf Personen hier einzieht, dann gibt sie da entsprechend was rein. Und Familien, die sich’s nicht leisten können, also Sozialhilfeempfänger, allein Erziehende, da übernimmt stillschweigend die Björn-Schulz-Stiftung die Kosten. Aber es sind ja nicht ständig die Eltern bei uns, wir haben auch diese Entlastungsfunktion. Bei der ‚Entlastung‘ ist es ja häufig so, dass die Kinder allein da sind, die Eltern entweder nach Hause gehen oder auch mit den gesunden Kindern mal in die Ferien fahren. Wir hatten zum Beispiel ein 17-jähriges Mädchen, Maria, sie war öfter hier, ein körperlich schwerstbehindertes Kind, geistig nicht altersentsprechend, sie ist spastisch, man kann aber normal mit ihr reden. Wenn sie’s mal stimmlich nicht rauskriegt, hat sie einen Sprachcomputer mit großen Tasten. Maria hat noch einen jüngeren Bruder, der ein bisschen verhaltensauffällig ist, er hat dieses Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Für die allein erziehende Mutter war das ungeheuer schwer, ihren beiden Kindern voll gerecht zu werden. Übrigens – ich weiß allerdings nicht, ob es auf Marias Mutter auch zutrifft – 70 Prozent der Familien mit schwer kranken, pflegebedürftigen Kindern gehen in die Brüche. Übrig bleiben dann in der Regel die allein erziehenden Mütter. Maria jedenfalls wurde von ihrer Mutter zu Hause gepflegt. Ein Außenstehender kann es sich schwer vorstellen, was das für eine Leistung ist, auch körperlich. Einen spastischen, fast erwachsenen Menschen zu bewegen, zu säubern, das ist Schwerarbeit. Sie müssen die Windeln wechseln, darauf achten, dass nichts wund wird. Solche Kinder sauber zu halten ist extrem wichtig, sie haben nicht nur Stuhlgang, sie haben einmal im Monat ihre Blutung, sie sind behaart … das ist nicht wie bei einem Baby. Und durch die Spastiken sind sie verletzungsgefährdet, die müssen richtig festgeschnallt werden zu ihrem Schutz, nachts im Bett und tagsüber im Rollstuhl. Vormittags besuchte Maria die Schule. Und während der Ferien, wie gesagt, war Maria dann auch bei uns, weil die Mutter wirklich am Zusammenbrechen war, denn Maria – das haben wir ja dann hier mitgekriegt – ist halt ein geistig klares Kind, das sich durch seine Eingeschränktheit nicht alleine beschäftigen kann, deshalb will es Unterhaltung. Das braucht sie geradezu. Da reichen nicht Fernsehen und Hörkassetten, sie will mehr! Und das ist natürlich zu Hause, neben der Pflege, dem Haushalt, dem anderen Kind und allem anderen kaum zu bewältigen. Maria wurde dann 18, die Schule war beendet, und die Mutter stand vor dem Problem einer 24 Stunden-Pflege. Sie hat dann eingesehen, dass sie das allein nicht leisten kann – und jetzt ist Maria in eine Einrichtung gekommen. Voll. Am Wochenende holt sie sie aber immer nach Hause.“

Wir brechen zu einem kleinen Rundgang auf. Im Tagesraum, den wir schnell und diskret zu durchqueren gebeten werden, werden gerade die Kinder gefüttert. Es gibt eine offene Küche, am Herd wird gelacht und hantiert, es riecht nach Pfannkuchen und Kinderstation. Die Stimmung wirkt heiter und entspannt. Während uns Schwester Sabine eines der Kindergästezimmer zeigt – es gibt insgesamt 12 Einzelzimmer auf zwei Etagen, gemütlich eingerichtet und in zarten Pastellfarben gestrichen – erzählt sie weiter: „Zum Essen will ich noch sagen, dass wir das kochen, was die Kinder mögen. Frisch! Für die meisten muss es allerdings püriert werden, weil sie nicht kauen können. Und es kocht ein Restaurantkoch! Das traf sich supergünstig, weil er auch ein betroffener Vater ist und das Restaurant aufgeben musste. Er hat einen Sondervertrag und kann seinen kleinen Sohn mitbringen.“

Sie zeigt uns den „Snoezelen-Raum“, niederländisch für schmusen, mit großem Wasserbett, einer Musikanlage und Diskokugel. „Ich bin ja nicht so fürs Kuscheln auf dem Wasserbett, ich bin mehr fürs Schwimmbad“, erklärt Schwester Sabine und führt uns hinunter zum Bad. Wir müssen, um nichts zu verkeimen, Überschuhe anziehen und betreten das Bad. Die Luft ist tropisch, der Blick kann durch eine große Glasscheibe zum Garten hinausschweifen. Der Mosaikboden hat mehrere Blautöne, im acht Meter großen Becken steht der Wasserspiegel bis zur Oberkante.

„Das hat den Zweck, dass ich sie mir leichter rein- und rausholen kann. Das Wasser trägt ja. Und schwerere Personen heben wir mit dem Lift. Gestern hatte ich Spätdienst, und da war klar, da hatte ich mich schon die ganze Woche drauf gefreut, da gehe ich schwimmen mit ein paar Kindern. Wir haben einen Jungen, Benie, der war auch voriges Jahr schon mal da, und der ist damals sehr gerne schwimmen gegangen. Er ist 12, hat auch eine Stoffwechselkrankheit, war gesund geboren und hat dann allmählich Funktionen verloren. Unkonzentriertheit, Einpullern, damit fängt es an. Die Erkrankung kann durch Knochenmarktransplantation zum Stillstand gebracht werden, das ist vor fünf Jahren gemacht worden, es war aber nicht erfolgreich. Die Krankheit ist weiter fortgeschritten, und jetzt ist er ein schwerstmehrfachbehindertes Kind. Er kann auf seine Art noch ein wenig gehen, aber nicht alleine, er ist spastisch, hat Krampfanfälle, hat Windeln und spricht nicht. Er ist ein sehr stilles Kind mit wenig Äußerungen. Wir wissen nicht, was er geistig noch mitkriegt. Aber Traurigsein kann er äußern, und laut kann er lachen, wenn es ihm gut geht. Ich habe ihm das schon seit Tagen gesagt, übermorgen gehen wir schwimmen, morgen gehen wir schwimmen, und da hat er Freude geäußert, ganz klar. Das Schwimmen ist nämlich was ganz Wunderbares für spastische Kinder, das Wasser ist 34 Grad warm, und da entspannen die total, er war selig!

Und auch Mustafa hat seinen Spaß gehabt, er ist 11, ein Türke, spastisch. Die können sich ja alle nicht selbst bewegen. Ich halte die Kinder an meinem Körper und bewege mich mit ihnen hin und her, wir toben rum, springen hoch. Er hat sich einen abgelacht, hat sich tierisch gefreut. Manche mögen es ja gern rabiater, ziemlich wild. Da kann es auch spritzen und klatschen. Bei anderen, da muss man vorsichtiger sein. Also die Linda, die wir jetzt haben, die ist ein Kind, das mag es mehr sanft, sie will so ein Schweben – mhm … hin und her im Wasser …“ Schwester Sabine macht wiegende Bewegungen mit den Armen. „Aber wir haben auch eine Gegenstromanlage unten drin für die, die es rabiat mögen. Die mache ich dann an, wenn ich ganz sicher bin, dass Freude aufkommt. Also wenn man so drei, vier Kinder hintereinander hatte, dann spürt man am nächsten Tag seine Po- und Beinmuskeln ziemlich heftig.“

Wir verlassen das Bad, ziehen die Überschuhe aus und spazieren durch den Garten, streicheln Darwin, den Esel, und seine Gefährtin Lotti.

„Hier können wir die Kinder mit dem Rollstuhl spazieren fahren. Und wenn das Wetter nicht so gut ist, dann beschäftigen wir uns drinnen, wir haben ja auch noch den Wintergarten, wo man spielen kann, oder was eben jeder so mag und braucht. Wir haben eine Musik- und eine Maltherapeutin im Ehrenamt einmal die Woche, und dann gibt’s Kollegen, die singen halt gern oder machen irgendeine Matschepampe. An Personal und Helfern jedenfalls haben wir keinen Mangel. Nach dem Hospizparagrafen ist ein Personalschlüssel 1:1,2 festgelegt. Das heißt bei 6 Betten, die wir derzeit belegt haben, wären das 7 1/4 Stellen. Damit kann man bei Erwachsenen vielleicht auskommen, aber nicht bei diesen Kindern. Wir haben angefangen mit 8 plus 2 Leitungen, waren also bei 10 Stellen, die wir besetzt haben. Und wir arbeiten zusätzlich mit Ehrenamtlichen. Wenn nötig, habe ich einen Ehrenamtlichen pro Tag, und der macht das umsonst, in seiner Freizeit. Rund um die Uhr sind wir besetzt mit examinierten Pflegekräften, das ist Gesetz im Hospizbereich, also mindestens eine pro Schicht. Wir haben ja ganz normalen Schichtdienst, genauso wie in der Klinik, dann hört aber die Ähnlichkeit schon auf. Es gibt bei uns natürlich nicht das, was es im klassischen Sinn so in der Klinik gibt, nämlich einen vorgegebenen Tagesablauf. Ihre Gewohnheiten, aufstehen, abends schlafen gehen, Essenszeiten usw., das bringen unsere Gäste von zu Hause mit.

Gerade im ‚Entlastungsbereich‘ haben die Gäste feste Gewohnheiten, die wir dann so weit wie möglich übernehmen. Wenn natürlich fünf Kinder um acht aufstehen möchten, dann geht es natürlich nicht so ganz. Also bei uns wird nicht um sieben geweckt. Der eine steht früh auf, der andere lieber später. Linda, das Mädchen, von dem ich erzählte, die ist häufig nachts wach, und sie schläft deshalb gerne bis in den späten Vormittag. Das ist alles in Ordnung. Andererseits haben aber auch die Kinder, weil hier mehr Trubel ist als zu Hause, viel mehr Eindrücke zu verarbeiten. Häufig schlafen sie dann nachts besser. Marias Mutter hat immer gesagt, zu Hause steht sie um sechs auf, und hier schläft das Mädchen bis acht. Wir haben uns allerdings gesagt, wir wollen möglichst unsere Mahlzeiten, also Frühstück, Mittag, Abendbrot und vielleicht noch Kaffee zwischendurch, gemeinsam einnehmen. Gäste, Personal und die Eltern, die da sind. Und auch die, die gar nicht richtig selbst essen, sondern ihr Beutelchen laufen haben, die sitzen trotzdem mit am Tisch oder liegen bei uns mit im Gemeinschaftsraum. Auch die, die wenig mitkriegen, spüren die gute Atmosphäre ganz genau. Sie haben ja kurz reingeschaut. Wir führen da normalerweise keine Außenstehenden durch, sonst haben wir ganz schnell so einen Zooeffekt, und das wollen wir nicht. So …“, sie schaut auf ihre Uhr und sagt entspannt: „und jetzt beginnt mein Dienst.“