: Das Unbehagen am Sommer
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Ja, es war Sommer. Joseph Roth, Radetzkymarsch, 1932 Sich vorstellen, dass wer weiß wie viele Millionen aus diesem Land Argentinien auswandern, wo es doch umgekehrt sein müsste. Ohne Unterlass, als wäre es ein Ritual, wiederholt sich die Austreibung aus dem Paradies, sie müssen im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot essen. Davor wird alle theoretische Gesellschaftskritik überflüssig.
Theodor W. Adorno, Luccheser Memorial, 1963
„Ja, es war Sommer.“ Das Zitat verwende ich liebend gern, in Gesellschaft, aber auch allein, wie eine magische Formel, die ich mir selbst vorsage, um den Sachverhalt zu bekräftigen, den ich nur halb glaube, obwohl ich den Sonnenschein auf den Bäumen und Dächern gegenüber klar sehe. Der Satz gehört zu meiner Inneneinrichtung.
In Joseph Roths Roman leitet er eine der schönsten Passagen ein, den Vorkriegssonntag in Kakanien. Auf die üppig-zeremonielle Mittagsmahlzeit folgen für den jungen Sohn des Hauses heimliche Geschlechtsfreuden. Lange brauchte ich, um Roths Heimweh nach dem Habsburgerreich für mehr als eine sentimentale Schnurre, ja für völlig korrekt zu halten. Sommertage in Slowenien überzeugten mich davon, dass man die Europäische Union als erweitertes und modernisiertes Kakanien sich wünschen kann. (Bei der Modernisierung haperte es leider in der ersten Fassung).
Wenn ich Roths Satz memoriere, steigen mir die Tränen in die Augen. Ebenso ergeht es mir vor einem Gemälde von Claude Monet, das „Sommer“ heißt und in der Alten Nationalgalerie zu Berlin hängt. Früher hing es in der Neuen zu Westberlin, und als Poster, den man dort kaufen konnte, hing das Bild lange in meinem Zimmer. Nichts Nennenswertes, eine Landschaft mit Wiesen, Bäumen und einem fernen Hügelzug, vorn sitzt eine Dame, möglicherweise wartend, im Gras. Ich könnte, um die Sache grandioser zu gestalten, jetzt noch Walter Benjamins ominöse Definition der Aura bemühen, Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag, aber das lassen wir mal.
Ich könnte Ihnen erklären, wie ich es mir erkläre, dass Roths Satz und Monets Gemälde mich zu Tränen rühren, aber das lassen wir auch. Es hängt natürlich mit der Kindheit zusammen, von der man glaubt, im Sommer schien immer die Sonne und im Winter fiel immer so viel Schnee, eine perfekte Illusion, wie jeder weiß – obwohl ich jetzt las, dass nur der Sommer des Jahres 1947 an Strahlen den des Jahres 2003 übertraf. 1947 war ich vier Jahre alt …
Adorno gibt das Stichwort: Paradies. Dort herrscht immer Sommer. Deshalb, denkt das Kind, laufen Adam und Eva die ganze Zeit nackicht herum, ohne zu frieren. Der Goldhintergrund mittelalterlicher Gemälde, lernte ich bei einem Museumsbesuch im Spätwinter, verkörpert das Himmelslicht. Und für die heidnische Variante des Paradiesmythos, den vom Goldenen Zeitalter, gilt dasselbe: Ja, es war Sommer.
Neulich, an einem wiederum heißen Nachmittag, als die Getränke gereicht wurden nach ein bisschen Arbeiterei, fragte der junge A. sanftmütig: Ob es eigentlich stimme, dass die Kultur nur im gemäßigten Klima sich fruchtbar entwickle? Gleich fielen uns natürlich die Gegenbeispiele ein, das alte Ägypten, das antike Griechenland, und ich schlug flugs bei Hegel nach – heute wird wieder ein bisschen mit Bildung geprotzt: Allzu heißes und allzu kaltes, allzu grandioses Klima gewissermaßen hemmt die Entwicklung, weil es den Menschen vor allzu schwere Aufgaben stellt; nur im gemäßigten Klima gelingt ihm folgenreich die Auseinandersetzung mit der Natur.
Da haben wir den Salat, der Sommer ist nur schlecht kompatibel mit Arbeit. Sie setzt die Vertreibung aus dem Paradies voraus. Das alte Ägypten, das antike Griechenland bevölkerten Gesellschaften, in denen Sklaven die Arbeit erledigten. In der modernen Welt arbeitet hingegen im Prinzip jeder. Heizungs- respektive Kühlsysteme erzeugen an den Arbeitsstätten das gemäßigte Klima, das die Arbeit fördert.
Immer wieder erzähle ich gerne, dass wir die Arbeitsethik verantwortlich machen müssen, wenn ein anhaltend strahlender Sommer den Bürger unbehaglich stimmt. Klar, er vernimmt auch die Prophezeiungen der Ökologie und der Hautärzte, aber wenn sie so leicht in den naiven Volksboden einschlagen, dann erklärt sich das weniger aus ihrer sachlichen Geltung – die der Bürger ja nur schwer überprüfen kann – denn aus jenem Unbehagen. Der Sommer macht Arbeiten unmöglich, nein, er lässt Arbeiten vollkommen unnütz erscheinen. Stattdessen den ganzen Tag auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen. Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung.
Es kommt hinzu, dass in der Gegenwart ohnedies so wenig von dem, was Arbeit ist, sich so anfühlt. Keine heroischen Auseinandersetzungen mehr im Eisenwalzwerk mit den widerständigen Kräften der Natur – Arbeit vollzieht sich vor allem an Zeichen, besteht aus Kommunikation. Dass das Arbeiten so spurlos bleibt, erzeugt die vertraute Angestelltendepression: „Abends weiß ich nie, was ich tagsüber eigentlich gemacht habe.“
Da lockt das Sommerwetter, es überhaupt mit dem Arbeiten sein zu lassen, vor allem nachmittags. Wir haben die italienische als deutsche Regelküche und das ganzjährige Straßencafé eingeführt, warum nicht jetzt die regelmäßige Siesta? Gern spielt man dabei ein bisschen am Laptop rum, im Freibad, auf der Terrasse, im Café. Die endgültige Neapolitanisierung Deutschlands, das ist unsere Aufgabe.
So entstehen interessante Fusionen zwischen dem angestrengten Nichtstun derer, die Arbeit haben, und dem heimlichen Tun jener, die offiziell ohne Arbeit sind und sich über den Schwarzmarkt damit versorgen. Beides bringt den Bürger dem Paradies nicht näher, sondern schafft das Unbehagen, das die beleidigte Arbeitsethik wieder in ihre Rechte setzt.
So lindert am Ende dies Unbehagen – wie ich von vielen höre – nur die unveränderte Fortsetzung des Sommers. Mit jedem schönen heißen Tag darf man authentischer klagen, jetzt sei es aber genug, das Schwitzen werde ekelhaft, lass es genug sein, Herr. Der Sonnenschein und die Hitze verwandeln sich, auf Dauer gestellt, unmittelbar in die Strafe für die Freude an Sonnenschein und Hitze.
Zum Schluss wollen wir derer gedenken, die wirklich die Ausgeschlossenen sind: diejenigen, welche auch im Sommer an ihrer Depression leiden. Das Licht, das ihnen im Winter wenigstens tageweise gnädig leuchtet, quält sie jetzt aufs Entsetzlichste mit seiner Fülle. Sie leben unter einer schwarzen Sonne. Die Finsternis, die sie dicht umhüllt, bleibt allen anderen unsichtbar.