Gezielt am Zeitgeist vorbei

Ob im Leben oder in der Literatur: Der Schriftsteller Georg Klein liebt es, jede Art von Verlässlichkeit, Erklärmustern und Sichwiedererkennen akrobatisch zu verunsichern. Mit „Die Sonne scheint uns“ hat er jetzt seinen ehrgeizigsten, aber leider auch sperrigsten und verrätseltsten Roman abgeliefert

VON JOCHEN FÖRSTER

Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: zunächst ein Tusch auf Georg Klein. Das ist nichts Besonderes, gerühmt wird er ja allenthalben. Doch Georg Klein ist ein außergewöhnlicher Autor. Einer, wie ihn Literaturkritiker lieben, denn die müssen übers Jahr lauter modebewusste Texte lesen und sich andauernd langweilen.

Georg Klein wirkt dann wie Balsam. Endlich einer, aus dem man nicht schlau wird, nicht nach 2, nicht nach 200 Seiten. Einer, der nichts abkupfert, nie anprangert, es nie besser weiß, dafür ganz groß ist im Fährtenlegen, Andeuten, Im-Dunkeln-tappen-Lassen. Der auf Milieus pfeift, auf Themen der Zeit und die Sprache der Kids sowieso, und stattdessen glaubhaft und oft vollendet nach dem Selbstgemäßen sucht, dem kleinesken Romanstil. Klein hat es fertig gebracht, mit „Barbar Rosa“ einen Berlin-Roman zu schreiben, aus dem das nicht herauströtet, im Gegenteil, und er hat einen Erzählband über „Die Deutschen“ nachgeschoben, der alle Fragen stellt, ohne übliche Schlüsse zuzulassen. Man möchte ihn eigenwillig nennen, klänge das nicht nach Rheinischer Merkur. Wie gesagt, Kritiker mögen so was. Verleger aber weniger, und Leser auch nur in Tausendermengen.

Herr Klein wollte Autor werden, also zog er von Augsburg nach Berlin, wo er prompt einen Kurzprosa-Preis gewann, mit 22. Drei Jahre später machte er eine Schlüsselerfahrung: Was er tags zuvor geschrieben hatte, las er nun noch mal und mochte es immer noch, der Stil war gefunden. Die neue Lust ging mit einer Erkenntnis einher: Recherche lenkt nur ab. Er beschloss, nur mehr zu fantasieren. Der Text wurde sein Freund und die Verleger seine Feinde. „Nicht vermittelbar“, meinte einer, „emotional nicht korrekt“ ein anderer, ein Dritter schlug vor, mal was Richtiges zu schreiben, etwa über die schwierige Beziehung zum Vater. Bis Alexander Fest es mit ihm wagte, beide viel Prestige gewannen und etwas Geld dazu.

Ein später Star

So könnte es aussehen, das Porträt des Autors als später Star, erbauliche Biografie für alle, die die Schublade voll und es fast abgeschrieben haben, entdeckt zu werden. Als Georg Kleins erster Roman erschien, „Libidissi“, war er 45, für einen Ausschnitt aus „Barbar Rosa“, mit 40 geschrieben und mit 50 gedruckt, bekam er 49-jährig den Bachmann-Preis. Natürlich würde Klein diese Art Porträt nicht mögen. Niemand mag sich einpacken lassen, am allerwenigsten er, der Verlässlichkeit, Erklärmuster, Sichwiedererkennen so akrobatisch verunsichert. Klein spricht stets dezidiert, schaut verschmitzt, wägt die Worte, man merkt, er wiederholt sich ungern. Über sein Leben sagt er wenig, über die Ehe mit der Kollegin Katrin de Vries, über sein Dasein an Deutschlands Nordwestzipfel, in Deich-Nähe, mit den zwei Söhnen, 10 und 13.

Woran ihm liegt, kann er dafür umso sprachstärker beschwören. „Am fruchtbarsten schreibe ich, wenn ich selbst nicht weiß, wo es hinführt.“ – „Ich bin Empfindungen nachgegangen, wo es mir mulmig wurde.“ – „Mein Wortmaterial will ich in alle Richtungen ebnen.“ – „Nichts ist lächerlicher als der Jargon von gestern.“ Letzteres hat im deutschen Sprachraum zuletzt niemand besser bezeugt als Antizeitgeistler Klein, dessen verschachtelte, gelegentlich verschollenes Vokabular aufspürende Prosa alles ist, nur kein Jargon, eher sprachlich klassisch, inhaltlich fremdelnd und immer mit Hang zur versehrten Seele. Folglich bürgerte sich der Kafka-Vergleich ein, was Quatsch ist, weil aus Kafka Verzweiflung spricht, aus Klein Süffisanz. Wenn schon, passt eher Gottfried Benn. Neuerdings aber passt weder Benn noch Kafka – womit wir bei der Kritik wären. Wer dichtet wie Georg Klein, hat ein Problem: Wie weit kann ich gehen? Wie viel muss ich Lesern an Lebensabbildungskohärenz bieten, wie viel darf ich ihnen abverlangen? Wie dunkel darf das Dunkel sein, ohne zu quälen?

Hell und dunkel

In „Libidissi“, Kleins zweitem Roman und dem ersten gedruckten, schien das Problem abstinent. Wozu vor allem beitrug, dass die Ausgangslage klar war, das Genre auch, die Rollen klar verteilt: Agent Spain soll von seinen Kollegen gekillt werden, weil er geplappert hat. Die hieraus entstehende, allmählich ausschweifende Verhörsituation verliert ihren Reiz nie, nicht nur weil ständig der Tod droht, sondern auch weil dezent dosierte Agentenroman-Essenzen immer wieder das Gefühl vermitteln, im richtigen Film zu sein.

In „Barbar Rosa“ fiel das schon schwerer, aber man wusste ja, was einen erwartete, zudem war auch hier das identitätsstiftende Minimum garantiert. Detektiv Mühler soll für einen ehemaligen Schulkameraden einen verschwundenen Geldtransporter finden. So weit klar. Dass der Held gern mal ein kaputter, notgeiler Typ sein kann, haben Hammett, Chandler und Macdonald vorgemacht, dass sich Berlin als Ort der Handlung eigentlich nur Stadtkennern erschließt, wirkt lässig, und dass es sich hierbei um einen gründlich verwahrlosten Locus voller kleinkarierter Typen handelt, kam anno 2001, als die Feuilletons längst den Hauptstadt-Blues im Besonderen und den Ewiger-Aufschwung-Blues im Allgemeinen anstimmten, gut an. Es war aber auch ein vergnügliches Buch, ein gemeinsames Sich-im-Plot-Verheddern von Leser und Detektiv.

Das nächste, „Über die Deutschen“, ganz anders und doch ähnlich: gewichtiger Titel, schwieriges Thema, wenn man nicht drüber schreiben will wie konkret im Deutschen Herbst. Alles drin: Angst, Unbehagen, Schauerromantik, Erinnerungsarbeit, wankelmütige Xenophobie, das Wörtchen „Neger“, aber nie passt das Stereotyp so ganz, weil es ohne Pointe auskommen muss. Da trifft beispielsweise ein deutsches Paar in Chicago einen Händler mit Nazi-Devotionalien, der sich beklagt, es gebe nur miserable „Mein Kampf“-Übersetzungen, wie solle man so den Faschismus bekämpfen? Klein tippt wieder Erwartungen an, nur ist diesmal das Genre sein Land. Geschichten von Deutschen statt in Geschichten verpackte Erklärungen.

Für seinen neuen Roman „Die Sonne scheint“ muss sich Georg Klein vorgenommen haben, konzeptionell noch eins draufzulegen. Nur so ist zu verstehen, dass die Ausgangslage diesmal ungleich unübersichtlicher ist. Fünf Personen sollen in einem Hochhaus die Sonne suchen und so lange bleiben, bis sie gefunden ist. Die vier Männer und eine Frau sind offenbar freiwillig da, sie haben sich einkaufen lassen von einem freundlichen Greis, dessen letzter Wille der Sonnenfund ist. Worum es sich bei der Sonne handelt, wird erst nach der Hälfte klar – der fehlende Stein eines 3.000 Jahre alten Bronzeamuletts, im Krieg verschollen beziehungsweise in seine preziösen Einzelteile zerlegt.

Zunächst wird die Container-Situation entwickelt, unter zunehmend verschärften und zum Ende hin tödlichen Folgen. Medienkritik, möchte man meinen, zumal die fünf Kandidaten sich gegenseitig mit Getränkenamen anreden: Frau Still, eine kiffende Graphologin, dann die Herren Bitter (auch Lemon genannt), der fette Funny, Light und Vita, der mal Pornorfilmstar war. Doch Schelte, das wäre zu billig.

Stattdessen entwickelt Klein sein Vexierspiel. Wechselt die Perspektiven, was sich meist Seiten später erschließt. Dichtet einem Ich-Erzähler eine Schreib-, einem anderen (?) eine Gedächtnisschwäche an, lässt Attentate geschehen, hantiert mit scheinbar sinnfälligen Namen und Orten und führt eine Außenwelt um den Apotheker Heinlein, den Kneipier Arno und Frau Martha Mutschereit ein, alle dahingerafft von einem mysteriösen Keulenmann, der, wie sich herausstellt, unter den Kandidaten weilt. Das sind noch die klareren Erzählstränge, deren Erschließung vom Leser bereits ein Maximum an Akribie und Kombinationsvermögen verlangt.

Wozu das alles?

Bleibt nur die Frage: Wozu das alles? Um der Auflösung willen, die angesichts des gewaltigen Brimboriums vergleichsweise frühhistorisch daherkommt? Wer überlebt? Wer gewinnt? Zu wenig, wenn bis zum Schluss schwammig bleibt, was genau auf dem Spiel steht. Wer will, mag die Sonne als Symbol einer (historischen? nationalen?) Aufklarung deuten. Bleibt der Reiz Klein’schen Unbehagens, angesichts der Protagonisten, die so jovial mittun, ihrer schleichenden, kommentarlosen Deformation, ihrer selbstverständlichen Unmoral. Und natürlich die Sprache: mitunter gestelzt, aber elaboriert wie immer, so in Funnys Todeskampf: „Sein aufgeblähter Leibsack, sein Knochenbeutel hat nach allen Absichten auch jede Niedertracht mit einem finalen Darmwind fahren lassen. Funny fühlt Papa Sonne kommen.“

Das klingt hübsch, lohnt aber keine 219 Seiten. Mit „Die Sonne scheint uns“ hat Georg Klein seinen ehrgeizigsten, sperrigsten, mit Abstand schweißtreibendsten Roman abgeliefert. Er hat sein Spiel überreizt. Wer keine Erwartungen aufbaut, keine Genres bedient, kaum Spannung erzeugt, jede Identifikation verhindert, dem wird beim Verrätseln kaum einer folgen. Womit wir in Kleins Schriftstellerleben wieder am Anfang wären, und das wollen wir doch nicht.

Georg Klein: „Die Sonne scheint uns“. Rowohlt, Reinbek 2004, 219 Seiten, 17,90 €