Volksbühne Bayreuth

Freaktheater im Oberfränkischen: Bei der „Parsifal“-Premiere outet sich Schlingensief als unbekümmerter Mystiker

AUS BAYREUTH SABINE ZURMÜHL

Wir haben zunächst einmal viel gelernt über: den Hasen. Er ist Bild des reuigen Sünders, aber auch Symbol des langen Lebens. Er wurde als Dank dafür, dass er bereitwillig seinen Körper opfern ließ, von den Chinesen in den Mond gemalt und stampft dort in einem Mörser das Kraut der Unsterblichkeit … Vor allem aber, und das hat zwischen dem Bayreuther Hausherrn Wolfgang Wagner und dem Bayreuther Neu-Regisseur Schlingensief zu Konflikten geführt, vor allem begegnet uns der Hase in seinem Verwesungsprozess. Die Fliegen kommen, die Maden nisten sich ein, der Wind weht die Spuren davon – ein herzliches Memento mori.

„Parsifal“ von Richard Wagner ist schwerste Opernkost, und die Geschichte vom Toren Parsifal und der Sünderin Kundry, vom selbst entmannten Zauberer Klingsor, dem wunden Amfortas und seinem aus dem Grabe sprechenden Vater Titurel ist in ihrer katholisierenden Getragenheit auch ein heikles Stück Festspielgeschichte. Noch immer soll möglichst nach dem ersten Akt mit seiner Abendmahlshandlung im Festspielhaus nicht geklatscht werden. Christoph Schlingensief ist begeistert von ebenjenem Stoff. Hat er doch schon ganze Robbenvölker, aber auch Lebensmittel mit Wagner-Musik „beschallt“, wie er sagt, und eine Veränderung der Zuhörerschaft, belebt und unbelebt, durch ebendiese Musik vermutet. Er liebt Wagner und sagt das auch laut. Wo die Regisseure der 68er-Generation knurrend von politischer Legitimation sprachen und sich die Aufgabe der Entmystifizierung setzten, bekennt sich Sonnenschein Schlingensief als unbekümmerter Neu-Mystiker. Woodoo und Nahtod, sprechende Tote wie Titurel, kabbalistische Zeichen vor Kundrys Tür …

Was Schlingensief letztlich aus dem „Parsifal“ macht, ist nicht minder schwere Kost. Nur anders. Er wird seinem Ruf als Trash-Künstler, als unerschrockener Konfrontierer und Tabuverächter gerecht. Das Bühnenbild ist eine – meist sehr dunkle, anstrengend dämmerige – Vorstadtlandschaft, vielleicht der so genannten Dritten Welt, in der abgerissene Häuser, kleine Holzverschläge, Ausgucke, Zelte, Gestänge neben- ,unter-, übereinander sich verkanten. An vielen Flächen sind Graffiti zu lesen, RUNEN, GOTT, WORTE, ZEICHEN, MALE. Die Drehbühne ist fast ununterbrochen in Bewegung, zu den schreitenden Menschen und der sich drehenden Architektur senken sich Vorhänge herab, auf denen Teile des Schlingensief’schen Filmoevres zu sehen sind: Wüstenboden, Slums, kleine Kinder, große Amöben, Heuschrecken ganz nah, Wolken, die erwähnten Robben, die Mutter Parsifals in Zeitlupe und immer wieder Hasen: auf chinesische Weise in die orangefarbenen Monde gemalt, in einem Schrein als lebendiges Tier hinein- und hinausgetragen. Prinzip ist die fortwährende Bewegung, die Überschwemmung mit Zeichen und Botschaften.

Schlingensief ist nicht umsonst jahrelang Ministrant gewesen. Er baut die Prozessionen links und rechts herum, die Baldachine, das langsame Umarmen, die christliche Ikonographie: Parsifal erscheint von Anfang an als Erlöser in spe, ein 19.-Jahrhundert-Jesus mit Locken und langem weißen Gewand, auf dem später das durchstoßene Herz zu sehen ist. Zugleich aber sprengt Schlingensief die bisherigen abendländisch-christlichen Bezüge, indem er – auch dies ist Tradition bei ihm – die ganze Welt einlädt. In der Prozession sieht man Juden, Muslime, christliche Mönche, Schwarze. Und zusätzlich tauchen einige Freaks immer wieder neu auf: eine fast nackte Venus von Willendorf, die Erdmutter gewissermaßen, Behinderte, Asylanten. Klingsors Zaubermädchen haben sich zu schwarzen Priesterinnen emanzipiert. Kundry, die nicht sterben kann, weil sie Jesus verlachte, Kundry erscheint als seidenbemantelte Stummfilmdiva und schwarze Priesterin. Das Angebot an Assoziationen, Hinweisen, Multikultibezügen und zusätzlichen Bildelementen ist gigantisch groß, ein MTV-Clip der spirituellen Sorte.

Aber damit werden auch Schlingensiefs Defizite unübersehbar: Personenregie – auch im bescheidendsten Maßstab – ist von ihm nicht zu erwarten. Er gestaltet eine Botschaft, nicht die konkrete Situation zwischen Menschen. Und so spielen die Sänger halt, wie sie können. Und es entstehen, wenn ausnahmsweise einmal kein Film zugespielt wird, unerwartete Ruhe-Inseln der altmodischsten, unfreiwillig komischen Couleur.

Sehr viel war im Vorfeld von dem Nahtod-Erlebnis die Rede, von der Formel „Erlösung dem Erlöser“, die Schlingensief so deutet, dass auch Parsifal sterben muss. Die Schlusseinstellung der Inszenierung, die sonst ein Abendmahl zeigt, stellt jetzt das Todeserlebnis dar, reißende Wolken, ein gleißend heller Lichtkorridor.

Schlingensief gelingt eine Erweiterung der „Parsifal“-Lesart in Ansätzen durchaus, gleichzeitig haben aber die Bezüge auf den Beuys’schen Goldhasen und die Blutorgien eines Otto Mühl, die ja auch schon kleine 40 Jahre her sind, eine verräterische Komponente, die in aller Menschenliebe, Todessehnsucht und scheinbarer Tabulosigkeit den katholischen Jungen aus dem Ruhrpott zeigt, zutiefst fundamentalistisch, traditionalistisch, wertekonservativ, nur eben im Gewand einer Medienvirtuosität. Einer, der sich in Bayreuth und bei Parsifal zu Hause fühlen kann, nicht als ästhetisch-künstlerische Opposition, sondern heimgekommen.

Musikalisch wurde der „Parsifal“ geleitet von Pierre Boulez, dem Bayreuther Dirigenten des Chéreau-Rings von 1976. Der fast 80-Jährige, der sich mit Schlingensief bestens verstanden haben soll, wurde emphatisch gefeiert. Die Buhrufe für Schlingensief und seine Crew schienen eher trotziger Natur. Zu groß ist das Bedürfnis der Wagner-Gemeinde selbst, den „Parsifal“ einer kathartischen, entschlackenden Neuerung zu unterziehen. Und dann lieber mit Hasen als gar nicht.