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Archiv-Artikel

Kampf für Kanzlers Wahlkampfgag

taz-Sommerschule (3): Trotz aller Widrigkeiten brauchen wir das Ganztagsschulprogramm des Bundes

Über 3.000 neue Ganztagsschulen gibt es schon, etliche sollen folgen. Und alles dank Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) und den vier Milliarden Euro aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die der Kanzler – als Wahlkampfgag oder aus Gutmenschelei - in die Einrichtung von Ganztagsschulen und deren Ausbau gesteckt hat.

Vier Milliarden Euro – damit ist das Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung das teuerste Schulentwicklungsprogramm, das es in Deutschland je gab. Aber was passiert mit den Milliarden wirklich? Ist das Ganztagsschulprogramm das Erfolgsrezept, um unsere Schulen wieder flottzukriegen? Seit Veröffentlichung der internationalen Schülervergleichsstudie Pisa ist es in Fachwelt wie Öffentlichkeit wohl unbestritten, dass es nicht besonders gut um sie steht.

Zweifel daran scheinen nicht angebracht: Viel wird dafür getan, gute Ganztagsschulen in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu rücken, wie es Reinhard Kahl mit seinem Film „Treibhäuser der Zukunft“ tut. Von der Bodenseeschule über die Jenaplan-Schule bis hin zu Schloss Salem: alles Lernorte für leistungsstarke VorzeigeschülerInnen und: alles Ganztagsschulen. Auch das Begleitprogramm von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung stellt „gute Beispiele“ in den Mittelpunkt. Schulen, die individuelle Begabungen besser fördern; Schulen, die die Grundlage für eine neue Kultur des Lernens schaffen. Fast könnte man meinen, wir wären auf dem richtigen Weg.

Aus diesen Träumen wieder in die Realität zurückgeholt hat mich meine eigene Schule, ein bayerisches Gymnasium. Denn meine Schule wird auch Ganztagsschule – jedenfalls entdeckte ich sie auf der langen Liste der neuen bayerischen Ganztagsschulen, die Mittel aus dem Investitionsprogramm von Bundesregierung und Ländern abrufen wollen. Das dafür nötige pädagogische Konzept hat der Schulleiter alleine zu Hause geschrieben. Weder SchülerInnen noch LehrerInnen noch Eltern wurden darüber informiert, geschweige denn eingebunden. Was ja auch nicht nötig war, denn es ändert sich nichts an der Schule – außer dass neu angebaut wird.

Diese Schule ist kein Einzelfall, weder in Bayern noch im restlichen Bundesgebiet. Der Mittelmissbrauch hat System, und die Kultusministerkonferenz bildet dabei wieder einmal die Speerspitze der Bildungsreformverweigerer. Durch die neue Definition der Kultusminister dafür, was eine Ganztagsschule ist (mindestens drei Tage die Woche mindestens sieben Stunden Unterricht plus Mittagessen), lässt sich nahezu jede Schule zur Ganztagsschule umfunktionieren – auf dem Papier. Und so werden aus Mitteln, die für eine längst überfällige Bildungsreform gedacht waren, Gelder zum Stopfen von Löchern in Turnhallendächern und kommunalen Haushalten. Beides hat seine Berechtigung, bloß sollten für beides andere Mittel zur Verfügung stehen.

Bildungsreformen im Schulbereich müssen sich heute vor allem daran messen lassen, ob sie es schaffen, dass SchülerInnen, statt den Unterricht nur zu konsumieren und immer nur für den nächsten Test zu lernen, die Möglichkeit bekommen, selbst zu denken, selbstständig zu lernen und sich über ihre eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu werden. SchülerInnen sollten zum Beispiel mitbestimmen können, wo, wann, was und wie sie etwas lernen. Doch dafür müssen nicht nur die einzelnen LehrerInnen umdenken und ihre Rolle im Klassenzimmer – weg vom Lehrdiktator hin zum Moderator eines Lernprozesses – neu definieren. In erster Linie braucht es SchulleiterInnen und Lehrerkollegien, die sich die eingangs erwähnten guten Beispiele zu Herzen nehmen und SchülerInnen in die Gestaltung des Schulalltages mit einbeziehen und das Ganztagsschulprogramm nicht nur dafür nutzen, schon lange geplante Baumaßnahmen in die Tat umzusetzen.

Die Bildungsministerin und die Kinder- und Jugendstiftung scheinen es kapiert zu haben: Noch nie wurden SchülerInnen so stark in die Konzeption eines Schulentwicklungsprogramms eingebunden wie derzeit. Über den Bundesarbeitskreis „Schüler gestalten Schulen“ können Jugendliche direkt das Ganztagsschulprogramm mitgestalten.

Auch wenn das Ganztagsschulprogramm Propaganda für den Kanzler und seine Agenda 2010 sein sollte: Dafür, dass es in Deutschland mehr Bodenseeschulen gibt, lohnt es sich zu kämpfen! VINCENT STEINL

Vincent Steinl (17) gehört der BundesschülerInnenvertretung und der LandesschülerInnenvertretung Bayern an. In der taz-Sommerschule gehen AutorInnen der Frage nach, „wohin die Bildungsreformen in Kitas, Schulen und Hochschulen führen“. Manuskripte bitte an cif@taz.de