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Archiv-Artikel

Wenn die Mutter Courage heißt.

Töchter – Von Fußstapfen, Erbhöfen und Altlasten (Teil 3)Spitzenpolitiker haben oft zwei Arten von Kindern: Die Kinder unddie Landeskinder. Wie geht eine Tochter damit um, wenn tausende wildfremde Menschen von einem Elternteil Fürsorge erwarten?

aus Berlin BARBARA BOLLWAHN

Noch im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft ist Elske Hildebrandt auf die Leiter gestiegen, um den Stuck in der neuen Wohnung freizulegen. Klar, denkt man, kein Wunder, als Tochter von Regine Hildebrandt, der ehemaligen Ministerin in Brandenburg, für die das Wort Schonung selbst während ihrer Krebserkrankung ein Fremdwort war. Als könne sie Gedanken lesen, schüttelt Elske Hildebrandt energisch den Kopf. „Ich grenze mich gleich ab von der Belastbarkeit meiner Mutter. Da will ich ihr überhaupt nicht nacheifern.“

Wie ist es, eine Mutter zu haben, die nach dem Mauerfall zur beliebtesten ostdeutschen Politikerin wurde, zur Therapeutin geschundener Ostseelen, zur Mutter Courage? Elske Hildebrandt überlegt einige Sekunden, bevor sie antwortet. „Das sind Worthülsen.“ Kleine Pause. „Eine Rolle, die sich verselbstständigt hat.“ Wieder kurzes Überlegen. „Eine Würdigung mit Klischees.“ Was soll’s. Die Öffentlichkeit soll ihr Bild haben von ihrer Mutter. Elske Hildebrandt, 29 Jahre alt, hat ihr eigenes.

In der Altbauwohnung in Berlin-Prenzlauer Berg, mit dem hellblau gestrichenen Wohnzimmer, dem Sofa und den Sesseln in Dunkelblau, den Tomatenpflanzen auf dem Heizkörper und den abgeschliffenen Dielen, wo Elske Hildebrandt mit ihrem Freund, einem Grafiker, wohnt, findet sich auf den ersten Blick nichts, was an die Mutter erinnert. Das hat zwei Gründe: Es gibt wenige Familienfotos, auf denen die Mutter abgebildet ist. Regine Hildebrandt hat stets die anderen fotografiert. Zum anderen ist es für die Tochter auch nach 21 Monaten unvorstellbar, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Noch immer hängen ihre weißen Blusen im Schrank in Woltersdorf, am Rand von Berlin, wo Regine Hildebrandt in einem Mehrgenerationenhaus lebte, mit ihrem Mann, dessen Vater und Bruder, ihrer ältesten Tochter und deren drei Kindern, einem Cousin und dessen Freundin.

Es gibt nur ein Schwarzweißfoto von Mutter und Tochter über dem Schreibtisch und einen Engel aus Bronze auf einem Tischchen. Elske Hildebrandt umschließt die Figur mit der Hand. Ihre Mutter habe das auch getan. „Obwohl sie keine Talismanfrau war, hat sie den sehr ernst genommen“. Nach dem Tod der Mutter habe sie sich den Engel „ganz bewusst geschnappt“.

Als Elske Hildebrandt zwei Jahre alt war, ist ihre Mutter ihr Schutzengel gewesen. Die Tochter bekommt Leukämie, eine Krebserkrankung der weißen Blutzellen. Regine Hildebrandt, die studierte Biologin, arbeitet zu dieser Zeit als stellvertretende Abteilungsleiterin im Volkseigenen Betrieb Berlin-Chemie. Sie liest Bücher über die Krankheit und fährt zu Kongressen, um den Ärzten die richtigen Fragen stellen zu können. Und sie sorgt dafür, dass ihre Tochter nicht in der Klinik bleiben muss, sondern zu Hause behandelt wird. Das Kind wird gesund. „Das habe ich ihr zu verdanken“, sagt Elske Hildebrandt heute.

Und dann, mit Ende 50, wird bei Regine Hildebrandt Krebs diagnostiziert. Die Tochter überlegt, bevor sie weiterspricht. „Sie hat mich dem Tod entrissen und ich gebe sie ihm preis.“

Chemotherapien, Haarausfall, Brustamputation – die Mutter bewältigte trotzdem weiterhin ein unglaubliches Arbeitspensum. Sie machte ihre Krankheit öffentlich, sprach über ausgestopfte Büstenhalter und Perücken. Elske Hildebrandt störte das nicht. Vielmehr fragt sie sich heute, ob ihre Mutter gegen ihren Krebs alles menschenmögliche unternommen hat, so wie damals bei ihr. Regine Hildebrandt ließ sich in einem brandenburgischen Krankenhaus behandeln. „Andere wären zu Experten nach Melbourne geflogen“, meint die Tochter. „Meine Mutter sagte, meine Krankheit miterlebt zu haben, war viel schlimmer als ihre.“

Seit dem Tod der Mutter im November 2001 gibt es für Elske Hildebrandt „ein Vor- und ein Nach-Muttis-Tod“. Es ist einfacher für sie, über das Davor zu sprechen. Vom Puppenfasching und Puppenkochen, das die Mutter für ihre und andere Kinder veranstaltete, von dem Haus, das immer voll war, wie die Mutter „mit Liebe und Druck“ versucht hat, sie an die Musik heranzuführen und sich mit einem Schnäpschen am Klavier beruhigte, wenn die Tochter Geige übte.

„Sie wusste immer, was zu tun ist.“ Extrem zuverlässig sei sie gewesen. Selbst wenn 70 Leute zu Besuch kamen, kochte sie selbst. Und jeder konnte sich bei ihr „ausschütten“. Eine Weile hat die Tochter versucht, es ihrer Mutter nachzumachen, bis sie merkte, dass es nicht ging und dass sie es nicht wollte. „Ich will auch Leute rauswerfen können, wenn ich gestresst bin.“

Elske und Regine Hildebrandt unterscheiden sich in vielem. Seit die Tochter 18 ist, studiert sie an der Berliner Humboldt-Universität Ur- und Frühgeschichte und Klassische Archäologie. Sie hat als Hilfskraft in der Universitätsbibliothek gearbeitet, und mit dem Freund ihrer Schwester betreibt sie ein Antiquariat. Jetzt, nach gut zehn Jahren, steht sie kurz vor der Magisterarbeit. Die Mutter brauchte bis zum Diplom fünf Jahre. „Hauptberuflich nehme ich mir Zeit und lasse mich ablenken“, sagt Elske Hildebrandt und lacht. „Mutti hat immer alles geschafft.“

Auch die Leidenschaft für Politik teilt sie nicht. Obwohl die beiden gemeinsam mit der Politik angefangen haben. Im September 1989, wenige Wochen vor dem Mauerfall, tritt Elske Hildebrandt zusammen mit ihrer Mutter ins Neue Forum ein. Bei Bärbel Bohley in der Wohnung unterschreiben sie. Elske Hildebrandt fühlt sich dazugehörig. Später interessiert sie sich noch für die Jusos, aber bald nerven sie endlose Diskussionen über Verfahrensfragen. Heute sagt sie, dass sie kaum weiß, welche Partei sie noch wählen kann.

Während sich das Interesse der Tochter für Politik bald nur noch im Kopf abspielt, wird die Mutter immer aktiver. Im März 1990 wird Regine Hildebrandt Ministerin für Arbeit und Soziales in der ersten frei gewählten Regierung der DDR, sieben Monate später unter dem Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe Arbeits,- Sozial,- Gesundheits- und Frauenministerin. Die Sozialdemokratin legt sich ins Zeug, als wollte sie den Osten alleine retten. Sie entwirft arbeitsmarktpolitische Sonderprogramme, fährt übers Land und diskutiert mit Arbeitslosen, richtet Betreuungsdienste für chronisch Kranke ein, kämpft für den Erhalt von Kindergartenplätzen. Als ihre Familie die erste große Westreise unternimmt, hat Regine Hildebrandt unaufschiebbare Termine. „Da hat sie geweint“, sagt die Tochter.

Elske trampt zu dieser Zeit nach Italien, Frankreich, Griechenland. Sie, die mit 15 einen Vertrag als Wirtschaftskauffrau unterschrieben und das Abitur an der Abendschule geplant hatte, darf plötzlich Abitur machen. Sie ist mehr mit sich beschäftigt als mit dem Strudel, in den ihre Mutter gerissen wurde. Als sie ihre Mutter die ersten Male im Fernsehen sieht, findet sie das seltsam: „Wie reingerubbelt in eine fremde Welt.“

Es war für Elske Hildebrandt damals unmöglich, die Fülle der Projekte der Mutter aufzunehmen. Heute fragt sie sich schon, ob es ihre Mutter belastet hat, „die Latte so hochgelegt zu haben“.

Elske Hildebrandt musste die Aufmerksamkeit der Mutter mit wildfremden Menschen teilen. „Die arbeitslose Frau Schmidt war genauso wichtig“, sagt sie. Aber nach einem Vorwurf klingt das nicht. „Wenn man ihr klar gemacht hat, dass man reden will, hatte sie Zeit.“ Ihre Mutter sei einfach nicht der Mensch gewesen, dem sie ihre „innersten Geheimnisse“ offenbarte. „Sie war nicht der Muttertyp beste Freundin.“ Eher tolerant, zärtlich, nicht streng.

Ob Elske Hildebrandt es wollte oder nicht, manchmal wurde sie in den Strudel der Politikerin hineingezogen. Es kam vor, dass die Hildebrandts zu einem Ausflug aufbrachen und die Mutter eröffnete, dass da ein Termin auf dem Weg liegt. Einmal landete Elske Hildebrandt als Staffage irgendwo in einer Dorfscheune, wo Jürgen Drews sang, sie hat sich kaum eingekriegt vor Lachen.

Nur die Wahlkämpfe, die hat sie gehasst. Nicht, weil die Mutter dann besonders viel unterwegs war. Sondern weil die Tochter manchmal den Sinn der Aufopferung nicht sah: „Sie hat sich zum Teil für Idioten verausgabt.“

Idioten, das passt. Die Mutter hatte von „Arschlöchern“ gesprochen, mit denen sie nicht am Kabinettstisch sitzen wollte, als die SPD 1999 mit der CDU koalierte und sie zurücktrat.

Seit dem Tod der Mutter ist das Verhältnis zum Vater enger geworden. Ihm fühlt sich Elske Hildebrandt wesensverwandter. „Ich stand meiner Mutter meist kritischer gegenüber“, sagt sie. Das führt sie darauf zurück, dass ihre Mutter „durch ihre dominierende Art mehr Angriffsfläche geboten hat“.

Ist Elske Hildebrandt stolz auf ihre Mutter? Bewundert sie sie? Wieder überlegt sie und nähert sich über Umwege einer Antwort. Als ihre Mutter ihren Ministerposten abgab, da war sie mit ihr „zufrieden“. Wenn sie „ekligen Typen“ ihre Meinung sagte, empfand sie das „als Befriedigung“. Als sie in Alfred Bioleks Kochstudio einen Kuchen backte, überraschte es sie, dass die halbe Nation zuschaute. Als ihr vorgeworfen wurde, im Ministerium Gelder veruntreut zu haben, weil sie Mittel „zwischenparkte“, um sie nicht verfallen zu lassen, war das für sie eine „schreiende Ungerechtigkeit“. Sie fand es „ganz schön cool“, dass die Mutter in ihren Augen ruhig und gelassen auf die Vorwürfe reagierte. Elske Hildebrandt überlegt wieder einige Sekunden. „Ja, da habe ich meine Mutter vielleicht bewundert.“