: Fette, kranke Welt
Langeweile und Stress, Armut und Reichtum – die Gründe für Übergewicht sind vielfältig
von MAX HÄGLER
Um 12 Zentimeter sind in den USA die Kinosessel inzwischen verbreitert worden, und vielleicht muss auch die Bundesrepublik bald neu bestuhlt werden. Hat doch der Bauchumfang der Deutschen zwischen 1989 und 1995 um 1,4 Zentimeter zugenommen – mittlerweile gilt die Hälfte der erwachsenen bundesdeutschen Bevölkerung als übergewichtig. Und: die Gürtel müssen immer weiter gelockert werden, denn die Zahl der Menschen mit Übergewicht steigt seit Mitte der 90er-Jahre hierzulande und weltweit sprunghaft an.
Eine Milliarde Menschen werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als übergewichtig eingestuft, andere Organisationen wie die „International Obesity Task Force“ sprechen gar von 1,7 Milliarden Betroffenen. Vor allem die Zahl der fettleibigen (adipösen) Menschen nimmt ständig zu. In den Industrienationen ist jeder Fünfte von der Zivilisationskrankheit betroffen. Und die Adipositasrate steigt rapide an, in den letzten acht Jahren um 50 Prozent: Waren 1995 weltweit 200 Millionen Menschen behandlungsbedürftig, sind es nun 300 Millionen.
In den USA wurden die Kinositze nicht grundlos vergrößert. Im Land von Fast Food und Autofimmel sind beinahe zwei Drittel der Bevölkerung übergewichtig, 31 Prozent gelten als adipös, vor zwanzig Jahren waren es noch 15 Prozent. Hielt man Übergewicht bisher allein für ein Problem der industrialisierten Welt, so gibt es dieses inzwischen auch in eher armen Ländern. In Ägypten oder Mexiko sind bis zu einem Drittel der Frauen adipös, auf der Insel Samoa sind gar 77 Prozent der Einwohner krankhaft fettleibig und in Barbados werden mehr als 60 Prozent des Gesundheitsbudgets für die Behandlung von Übergewicht ausgegeben.
Inzwischen wurde Adipositas von der WHO als Krankheit eingestuft und festgelegt, ab wann man als fettleibig gilt. Körpergewicht durch Größe zum Quadrat lautet die einfache Formel. Jeder Wert über 25 wird als Übergewicht eingestuft, wer auf mehr als 30 Punkte kommt, ist adipös.
Dass es bei Fettleibigkeit um Leben oder Tod geht, zeigen die 1,1 Millionen Toten, deren Ableben im Jahr 2000 nach WHO-Angaben direkt auf Übergewicht zurückzuführen ist. Dazu kommen 6 Millionen Todesfälle aufgrund von Cholesterin, Bluthochdruck, geringem Obstverzehr und Bewegungsarmut.
Betroffen sind auch die Kinder. Seit 1980 hat sich in Deutschland die Zahl der adipösen Jugendlichen verdoppelt, jedes sechste Kind ist zu dick, bei 8 Prozent liegt eine Adipositas vor. Betroffen ist besonders Ostdeutschland: Brandenburger Grundschüler haben seit 1989 durchschnittlich 1 Kilo zugelegt, in Sachsen-Anhalt ist jedes dritte Mädchen zu dick.
Die totale Bewegungslosigkeit – unterstützt durch Chips und Hamburger, verursacht durch Langeweile, Unzufriedenheit und Einsamkeit – so sieht auch in vielen deutschen Haushalten ein Nachmittag für Kinder aus. Die Warnungen vor den Folgen übermäßigen Fernsehens haben sich wissenschaftlich bestätigt, US-Kids verbringen mehr Zeit vor TV und Videospielen als irgendwo anders – abgesehen vom Bett – und über ein Drittel von ihnen ist übergewichtig.
Über die weiteren Ursachen der rasant zunehmenden Pfunde ist sich die Wissenschaft noch nicht ganz einig. Fest steht zumindest, dass es einen Zusammenhang zwischen Armut und Übergewicht gibt, in Deutschland und vor allem in Entwicklungsländern. „Arme Menschen müssen sich von billigen Lebensmitteln ernähren, die häufig kalorienreich sind. Obst und Gemüse können sie sich oft nicht leisten, und wenn es Fleisch gibt, dann ist es das fette“, erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Ingrid Keller, die bei der WHO an einer Strategie zur Bekämpfung von Übergewicht arbeitet. Auch hätten arme Bevölkerungsteile häufig weniger Zugang zum Bildungssystem und würden somit die Gefahren von Fast Food, einseitiger Ernährung und Bewegungsmangel meist gar nicht kennen. Als weitere Ursache gilt das Essen außer Haus. Immer häufiger greift man zum Snack und die Portion Pommes Frites hat sich in den USA von 75 Gramm im Jahre 1955 auf 220 Gramm erhöht. Doch natürlich ist nicht nur falsches Essen schuld am Übergewicht: „Die menschliche Bewegung muss wieder als Transportmittel genutzt werden“, fordert Keller.
Doch wie man die Menschen von der Völlerei abhalten kann, ist der Weltgesundheitsorganisation noch nicht ganz klar. Zwar ist das Phänomen seit Jahren bekannt, aber „da hat der Schuh wohl nicht so gedrückt“, erklärt sich Keller das späte Eingreifen der Weltgemeinschaft. Erst seit Verabschiedung der Resolution EB 109.R2 im Mai 2002 ist der Kampf gegen die „Katastrophe“ (WHO) eröffnet. Mit Blick auf die Bäuche ihrer Bürger hatten Brasilien, Dänemark und Kanada eine Strategie für mehr Sport und gesündere Ernährung gefordert. Doch während die Medizin Magenbänder und Tabletten anbietet, ist für Keller klar: „Wir wollen die Menschen gar nicht erst dick werden lassen.“