Die Ersatzsprintkönigin

Das Herz hängt eigentlich immer noch an der doppelten Distanz: Kelli White gewinnt in Abwesenheit der anwesenden Marion Jones die 100 Meter von Paris und sieht nun noch viel Arbeit vor sich

aus Paris FRANK KETTERER

Natürlich ist auch Marion Jones hierher ins Stade de France gereist, schließlich will sie, bloß weil sie kürzlich Mutter geworden ist und derzeit noch nicht wieder ganz so schnell laufen kann, nicht in Vergessenheit geraten im Land der Leichtathletik. Also präsentiert sie im Fernsehen ihre bespangten weißen Zähne, zeigt sich auf der einen oder anderen Pressekonferenz, gibt eifrig ihre Expertisen ab und lässt auch sonst keinen Zweifel aufkommen, dass sie nächste Saison, also rechtzeitig zu Olympia in Athen, wieder zurückkehren wird auf den roten Tartan und dort natürlich auch gewinnen, schließlich fühlt sie sich immer noch als die Königin des Sprints. Kelli White hat all diese Dinge zur Kenntnis genommen. Wie hätte sie auch an ihnen vorbeisehen können? Sie sagt: „Dass Marion da ist, ist kein Problem. Sie ist eine große Athletin, und um das zu erreichen, was sie schon erreicht hat, muss ich noch viel und hart arbeiten.“

Am späten Sonntagabend hat Kelli White, 26 Jahre alt und aus dem sonnigen Kalifornien, ein gutes Stück dieses Weges hinter sich gebracht. Genau genommen waren es nur 100 Meter, aber dass sie diese nach schnellen 10,85 Sekunden beendet hatte und somit als Erste, als neue Weltmeisterin also, wird schon etwas zu bedeuten haben. Marion Jones hatte es bei der WM vor zwei Jahren in Edmonton just auf die gleiche Zeit gebracht und dürfte somit gewarnt sein, auch für die Zeit nach ihrem Mutterschaftsurlaub.

Zumal die Potenziale noch nicht ausgeschöpft scheinen bei Kelli White. Erst seit drei Jahren ist sie mit dem Leichtathletik-Zirkus unterwegs, da sollte so manches noch entwicklungsfähig sein, gerade über die 100 Meter. Denn eigentlich zieht die 26-Jährige die doppelte Sprintdistanz vor, sie liegt ihr einfach mehr. „In meinem Herzen bin ich immer noch eine 200-Meter-Läuferin“, sagt White. Dritte war sie über diese Strecke gleich bei ihrer ersten WM-Teilnahme vor zwei Jahren, ihrer Veranlagung entsprechend kritisierte sie in Paris nun auch ihren Goldlauf über die 100 Meter. „Mein Start ist immer noch schrecklich“, stellte sie fest, im Stade de France kam sie lediglich als Sechstbeste aus dem Startblock: „Daran muss ich arbeiten.“

Sie wird es tun, zusammen mit ihrem ukrainischen Trainer Remy Korchemny, der sie betreut, seit sie überhaupt über rote Bahnen hastet, zehn Jahre sind das nun schon. „Wir kennen uns perfekt. Ich liebe ihn“, sagt White über ihren Coach, was allerdings eher platonisch gemeint ist, schließlich ist Remy Korchemny ein gebrechlich wirkender älterer Herr mit weißen Haaren; außerdem gehört Kellis Herz sowieso so richtig nur dem Speerwerfer Boris Henry, ihrem Boyfriend aus Germany. Für die schnellen Beine aber ist und bleibt Korchemny verantwortlich. „Er weiß genau, wie ich trainieren muss“, sagt Kelli White, und in diesem Jahr habe sie das härter und konsequenter getan als jemals zuvor: „Das hat sich ausgezahlt, vor allem nach dem, was mir im Vorjahr passiert ist.“

Letzten Sommer laborierte Kelli White an einer Sehnenverletzung. Um dennoch Rennen laufen zu können, nahm sie Schmerzmittel ein. Die Rechnung dafür bekam sie am Ende der Saison präsentiert, als ihr mitgeteilt wurde, man habe sie am 5. Juli mit Corticoiden im Körper erwischt, mit unerlaubten Mitteln also, ausgerechnet beim Meeting in Paris. „Das war alles regelkonform“, behauptet die 26-Jährige, dem Verband habe ein entsprechendes, allerdings nachgereichtes Attest vorgelegen; mit solchen kann Sportlern in Ausnahmefällen die Einnahme bestimmter Schmerzmittel erlaubt werden, die ansonsten auf der Dopingliste stehen und verboten sind. Der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) hat Whites Attest akzeptiert und die positive Probe entsprechend für gegenstandslos erklärt; vom französischen Verband aber, der den schärferen französischen Anti-Doping-Gesetzen unterstellt ist, wurde die Amerikanerin für ein halbes Jahr für Meetings auf französischem Boden gesperrt; erst im Juni lief diese Sperre aus.

Nun muss man prinzipiell immer argwöhnisch sein, wenn jemand mit Doping in Verbindung gebracht wird, gerade in der Welt des Sprints; für Kelli White aber darf durchaus entlastend gewertet werden, dass auch der britische Dreispringer Jonathan Edwards an gleicher Stelle aus fast gleichem Anlass angeklagt wurde. Edwards gilt als eine der glaubwürdigsten Figuren in der Leichtathletik.

Über den Vorfall vor einem Jahr sagt Kelli White heute: „Es war schwerer, mich davon zu erholen als von der Verletzung in meinem Gesicht.“ Die wurde ihr mit 17 zugefügt, eine Attentäterin stach damals mit dem Messer auf sie ein und verletzte sie schwer. Mit über 300 Stichen musste Kelli White genäht werden. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Heute ist sie eine hübsche junge Frau – und seit Sonntag die schnellste der Welt.