Egokult aus Seelenschwall

Ganz schön belämmert: Die „Literärgeschicht“ des Germanisten Friedrich Gundolf

In jeder deutschen Literaturgeschichte haben die Lämmer einen festen Platz, schon deshalb, weil die Kritiker sie zum Fressen gerne haben. Der Hassliterat von heute meint sie an den Schlappschwänzen zu erkennen, aber das überhistorische identifizierende Lämmermerkmal dürfte die fehlende Haltung sein. Auch Friedrich Gundolf (1880–1931), der heute vergessene einstmalige Lieblingsjünger Stefan Georges, widmet den Lämmern in seiner „Literärgeschicht“ ein eigenes Kapitel. „Nur ungern steig ich von der Höh / Zur flachen Epigonorrhoe“. Gundolf, Höhenflieger des Geistes, war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der berühmteste deutsche Germanist. Mit seinen Monographien über „Shakespeare“ (1911) und Goethe (1916) „wirkte“ er weit über das eigene Fach hinaus.

So viel Spott Gundolf über die epigonalen Lämmer des späten 19. Jahrhunderts, über all die Grabbes, Spielhagens und Freytags ausgoss – auch er war lange ein ganz schönes Lamm. Treu und fromm ging er seinem Meister George zur Hand, bis es ihm zu toll wurde und er sich mit seiner Braut davonmachte. Ungefähr in die Zeit seines Bruchs mit George um 1920 fällt die „Literärgeschicht“, ein Parforceritt in 32 Knittelversen durch die deutsche Literaturgeschichte von Luther bis Nietzsche, „reimweis kurz fasslich hergericht“.

Man fragt sich, ob Gundolf mit der „Literärgeschicht“ sich aus der steifen George-Welt abseilen wollte. Sicher ist er aus dem strengen Kreiskanon, der von Dante über Shakespeare und Goethe zum Meister George selbst führte, ausgebrochen. Auch die „ephemeren“ Geister Kleist und Heine werden in der „Literärgeschicht“ als scherzwürdig anerkannt. So viel Witz in Gundolfs „Klein-Knüttel-Welt-Kompendium“ aber steckt – er albert entlang den alten, geheimen Richtlinien des George-Kreises. Als es gilt, Meister George zu travestieren, streckt Gundolf seine humoristischen Waffen: „Hier schließ ich besser sowieso.“

Natürlich sind wir heute aus Gundolfs universaler Bildungswelt gefallen – viel von dem zeitgenössischen Anspielungsreichtum geht verloren. Schwer fällt es, all die kleinen Dichter aus dem Hinterhof des 17. Jahrhunderts auseinander zu halten. Wer war denn noch mal Günther? „Erst Günther füllt den schlaffen Darm / Mit einem hohen Ton voll Drang und Harm.“ Aber vielleicht möchte man das gar nicht so genau wissen – sonst hilft bei Verstopfungen der Kommentator Ernst Osterkamp.

Aber was Gundolf über die wahren Leidenschaften der „Kräftekugel“ Goethe reimt, das verstehen wir sofort. „Beschränkung selbst im Sinnenja / Gönnt und erfordert Vulpia / Zu römisch-deutschen Elegien / Erregt sie und befriedigt ihn.“ Oder über Luther: „In Luther klafft zuerst der Spalt / Von Seelenheil und Weltgestalt.“ Das zarte Pflänzchen deutsche Literatur lässt Gundolf in unmittelbarer Nähe zum Pfarrhaus sprießen. Unlängst ist Heinz Schlaffer ihm gefolgt, dessen viel besprochene, „kurze“ Geschichte der deutschen Literatur aus dem Geist des Protestantismus erzählt ist.

Wie steht es aber nun um unsere heutigen literarischen Lämmer? Wenn Judith Hermann in ihren neuen Gespenstergeschichten der mörderischen Frage nachgeht, wer mit wem schläft, ist das erst mal ziemlich unpfäffisch. Aber dahinter versteckt sich die alte ichsüchtige „Lutherei“. „Ich wusste nicht, was er wollte, und was ich wollte, wusste ich eigentlich auch nicht.“ Ist es da nicht an der Zeit, Gundolfs „Literärgeschicht“ fortzureimen: „Egokult aus Seelenschwall / Findet in Hermanns Storys ihren Hall.“

STEPHAN SCHLAK

Friedrich Gundolf: „Die deutsche Literärgeschicht reimweis kurz fasslich hergericht“. Hrsg. von Ernst Osterkamp, Manutius Verlag, 180 S., 16 €