Ist Kultur gleich Freiheit für alle?

Der Historiker Christian Meier sucht den Ursprung Europas und findet eine griechische Antike, in der Kultur und Herrschaftsfreiheit sich gegenseitig bedingten

Hätte dieses Buch nicht Deutschlands renommiertester Althistoriker geschrieben, man könnte es für eine linke Utopie halten. Die Rede ist von Menschen, die sich in einem herrschaftsfreien Raum ihre Welt schaffen. Die Hierarchien sind flach, jeder darf mitmachen. Beinahe romantisch und mit viel Sympathie blickt Christian Meier noch einmal auf das frühe Griechentum, auf die Entstehung der griechischen Kultur.

Natürlich: Utopisch und friedlich geht es auch hier nicht zu. Die Griechen erleben Gewalt und Zwietracht, mitunter Tyrannis und Bürgerkrieg. Aber diese Faktoren sind für Meiers Sicht auf die Dinge nicht wesentlich. Ihn fasziniert der Freiheitsdrang der Griechen. Und die erstaunliche Tatsache, was ihnen dahingehend alles gelungen ist – dank der Kultur. Die griechische Welt, die Christian Meier beschreibt, wurde nicht von Monarchen geformt und nicht vom Adel, sondern von einer breiten Schicht freier Bürger, die ihrerseits in hunderten selbstständigen Gemeinden lebten.

Möglich wurde das durch einen historischen Glücksfall, ein für die Kulturbildung günstiges Zeitfenster: Vor dem Aufstieg des Perserreichs konnte sich die griechische Polislandschaft in einem machtpolitischen Vakuum frei entfalten. Doch diese Freiheit brachte ihre speziellen Probleme.

Während monarchisch regierte Reiche das Leben zentralistisch bestimmen und formen, waren die Griechen auf sich allein gestellt. Sie mussten ihren Zusammenhalt eigenständig organisieren, ohne die verbindlichen Vorgaben einer zentralen Herrschaftsinstanz.

Hier entstand – um der Freiheit willen, wie Meier es ausdrückt – die reichhaltige griechische Kultur. Als ein Experimentierfeld für Lebensentwürfe und Normen. Meier sieht darin einen „Großversuch, unter schwierigen Bedingungen ein Leben ohne Herrschaft zu führen“. Das war nicht selbstverständlich: Wie sollte man Konflikte lösen? Wie einen Ausgleich finden zwischen rivalisierenden Interessen? Wie konnte man sich auf feste Regeln verständigen?

Dazu wurden in der Dichtung und in der Kunst die Probleme des Zusammenlebens gleichsam durchgespielt. In Lyrik und Epos, in Philosophie und Wissenschaft wurde durchdacht und erprobt, wie man gut und richtig leben könne. „Jene Domestizierung von Affekten“, schreibt Meier, „jene Verinnerlichung von Hemmungen des Dichtens und Trachtens, die in anderen Kulturen von oben her geschieht, musste hier im Kreis der Gemeindemitglieder erreicht werden, immer neu.“

Meier gelingt eine in weiten Teilen plausible und glänzend geschriebene Kulturgeschichte der Griechen. Nur: Was geht uns das noch an? Welche Elemente dieser Lebenswelt haben sich ins Heute tradiert? Markiert die griechische Kulturbildung wirklich den „Anfang Europas“, wie es Umschlag und Klappentext suggerieren?

Ein akademischer Schüler von Christian Meier, der Berliner Althistoriker Wilfried Nippel, hat diese Frage in der 2008 erschienenen lohnenswerten Studie „Bürger und Polis“ untersucht und die vielschichtigen Aneignungs- und Umdeutungsprozesse dargestellt, denen die antike Tradition unterliegt.

Christian Meier hat immer wieder die Grenzen des althistorischen Fachs überschritten, hat sich zur parlamentarischen Demokratie geäußert und zur deutschen Wiedervereinigung. Auch sein neuester Band beginnt mit Gedanken zum Fortleben der griechischen Kultur im Mittelalter und in der Neuzeit. Die Antike sei ein wirkungsmächtiger Teil der europäischen Geschichte gewesen, schreibt er.

Die Griechen waren es, die im Konflikt mit den Persern ihre Andersartigkeit entdeckten. Ihren unbedingten Willen zur Freiheit, der sie von anderen unterschied – und der als historischer Topos für Europa identitätsstiftend wurde. Viel mehr schreibt Meier leider nicht über das Weiterleben antiker Kultur. Seine knappen Bemerkungen verbirgt er zudem hinter einer Reihe von Fragezeichen. Ganz so, als sei der Doyen der deutschen Althistorie immer noch unentschieden, was Griechenland für Europa bedeutet. TORBEN WALECZEK

Christian Meier: „Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas?“ Siedler Verlag, München 2009, 368 Seiten, 22,95 Euro