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Archiv-Artikel

Beim Hund hört der Spaß auf

Der für zehn Oscars nominierte britisch-indische Film „Slumdog Millionaire“ spielt in Bombays größtem Slum Dharavi. Dort tut man sich schwer – mit dem Humor und den Pointierungen des britischen Regisseurs Danny Boyle

Boyles „Trainspotting“ enthielt eine ähnlich absurde Kloszene mit einem schot-tischen Drogensüchtigen

VON SVEN HANSEN

„ ‚Slumdog Millionaire‘ habe ich noch nicht gesehen,“ sagt Sayed Yunus Ali. „Aber ich habe gehört, der Film ist schlecht. Denn er vergleicht uns mit Hunden.“ Ali macht gerade Pause in seiner Recyclingwerkstatt in Bombays Slumviertel Dharavi, wo ein Teil des Films gedreht wurde. Etwa eine Million Menschen leben hier. Das macht Dharavi nicht nur zu Bombays größtem Slum, sondern zum größten der Welt.

In seiner nach verschmortem Plastik stinkenden Werkstatt zerschreddern Ali und seine Mitarbeiter Plastikreste. Recycling ist Dharavis größte Industrie, die hier weder Umwelt- noch Gesundheitsvorschriften kennt. Während ein Mitarbeiter neben dem Schredder auf dem Boden der Hütte mit einem Kerosinkocher Essen zubereitet, füttert der 31-Jährige zwischen Säcken voll Plastik seine Ziege mit Blättern.

Alis Antwort ist typisch, wenn Dharavis Bewohner nach „Slumdog Millionaire“ gefragt werden. Der bereits mit vier Golden Globes ausgezeichnete Film des britischen Regisseurs Danny Boyle („Trainspotting“, „The Beach“) gilt bei der Verleihung der Academy Awards („Oscars“) an diesem Sonntag als Favorit. Doch in Dharavi hat bisher kaum jemand den Streifen gesehen. Dabei läuft er in Indiens Kinos seit dem 23. Januar. Dharavis Bewohner sind mit ihrem täglichen Überlebenskampf zu beschäftigt. Viele arbeiten zwölf Stunden an allen sieben Tagen die Woche in einem der 10.000 Betriebe dieses 1,75 Quadratkilometer großen Slums. Neben Recycling gibt es Leder- und Textilbetriebe, Metall- und Holzwerkstätten, Bäckereien und Töpfereien.

„Wenn wir den Film sehen dann auf DVD,“ sagt der mit schwarzer Farbe verschmierte Muhamad Mustakim Khan. Mit einer Spritzpistole färbt er Lederstücke, die ein Kollege zum Trocknen aufhängt. Ein Kinobesuch würde Khan mindestens 100 und damit fast den gesamten Tagesverdienst von 120 Rupien (2 Euro) kosten. Doch denkt auch Khan, der Film sei nicht gut, weil er die Menschen hier Hunde nenne. In Dharavi gab es deshalb schon Protest gegen den Film. An einer Kreuzung hängt ein Transparent mit der Aufschrift: „Wir sind keine schlechten Menschen und keine Slumhunde. Wir hängen nicht rum, sondern leben und arbeiten hier.“ Zwei Sozialarbeiter wollen gar per Klage eine Umbenennung des Films durchsetzen.

Im Film steht der 18-jährige Slum- und Waisenjunge Jamal Malik (gespielt von Dev Patel) in der indischen Version des TV-Quiz „Wer wird Millionär?“ vor der entscheidenden Millionenfrage. Er hat bisher alles richtig beantwortet, was er mangels Schulbildung eigentlich nicht getan haben könnte. Das lässt den von Bollywoodstar Anil Kapoor gespielten Quizmaster Betrug wittern und den Jungen von der Polizei festnehmen.

Doch trotz Folter kann die Polizei Jamal kein Geständnis entlocken. Vielmehr erklärt er beim Verhör anhand von Erfahrungen aus seinem Leben im Slum, warum er dennoch die richtigen Antworten wusste. Der Film zeigt, wie Jamal bei antimuslimischen Ausschreitungen seine Mutter verlor und sich mit seinem Bruder mit Bettelei, Gelegenheitsjobs und Gaunereien durchschlägt. Während sein Bruder in die Kriminalität abdriftet, wird Jamal „chai walla“, ein Teejunge in einem Callcenter, bevor er, verwoben in eine Liebesgeschichte zu einem früheren Slummädchen, in der Fernsehshow ein Millionenpublikum zum Staunen bringt.

„Die Menschen hier haben sehr wohl die Fähigkeit, Millionäre zu werden,“ meint Sangita Thanmantha Dogi. Mit 18 Jahren ist die Bewohnerin Dharavis so alt wie die Hauptfigur des Films. Die Frage, ob sie jemanden aus Dharavi kenne, der Millionär geworden sei, verneint sie. Aber sie verweist auf Bollywoodstar Kapoor. Der stamme zwar nicht aus Dharavi, aber aus einem anderen der rund 2.000 Slums aus dem Großraum Bombay mit seinen 20 Millionen Einwohnern. Die Realität hier sei besser als im Film dargestellt, sagt Dogi. Vieles sei besser geworden. Filmszenen wie die, wo einem Straßenjungen ein Auge zerstört wird, damit er mitleiderregender Betteln kann, findet sie übertrieben. „So etwas gibt es hier nicht,“ meint Dogi, „zumindest ist das nicht meine Erfahrung.“

Viele in Dharavi ärgert die Szene, in welcher der kleine Jamal in eine Latrine springt, weil dies für ihn der einzige Weg ist, aus einer verschlossenen Toilette heraus- und damit in die Nähe von Bollywoodsuperstar Amitabh Bachchan zu kommen. Dem über und über mit Kot beschmierten Jungen stellt sich niemand in den Weg, so dass er bis zum Superstar gelangt und als Einziger seiner Clique das ersehnte Autogramm bekommt.

Was im Film übertrieben absurd-komisch ist, wird in Dharavi als beleidigend empfunden. „Ich bin so alt wie Jamal, aber ich habe hier noch nie so eine ekelhafte Toilette und so viel Dreck gesehen wie im Film,“ sagt Moqim Ansari. Dass Boyles Kultfilm „Trainspotting“ eine ähnlich absurde Kloszene mit einem schottischen Drogensüchtigen enthält, weiß Ansari nicht. Er fragt: „Warum zeigt der Regisseur nur negative Seiten?“

Zwar hält auch Ansari, der in Dharavi in einer Stickerei arbeitet und in Abendkursen Englisch lernt, die Hauptfigur Jamal für inspierend. Aber gerade weil der Film ansonsten Indien so negativ darstelle, ist sich Ansari sicher, werde der Streifen am Sonntag sehr viele Oscars bekommen. Schließlich hätten schon die britischen Kolonialisten Inder als Hunde bezeichnet. Filme über Indien müssten „das Positive zeigen“, meint Ansari.

Der Wächter Sheikh Mohamad Wasil empfindet den Film denn auch als Beleidigung für ganz Indien. Die folternden Polizisten aber seien treffend dargestellt. An diesen Szenen hat auch sonst kein Gesprächspartner etwas auszusetzen, sie entsprächen ihren eigenen Erfahrungen.

Gespalten sind die Meinungen, ob die filmische Darstellung der Armut helfe, das Leben in Dharavi zu verbessern. „Dieser Film wird nicht helfen,“ meint der Lehrer Ashok Harikeri. Er unterrichtet am Rand Dharavis an der Schule einer Hilfsorganisation Englisch und zeigt die englische Version von „Slumdog Millionaire“ im Unterricht. „Es hat hier schon viele Verbesserungen gegeben,“ sagt der 30-Jährige. „Aber nicht wegen eines Films oder der Regierung, sondern weil Hilfsorganisationen und vor allem die Menschen hier etwas verändert haben.“ Trotzdem wünscht er sich, dass der Film viele Oscars bekommt, denn: „Das wäre eine Ehre für Indien.“

„Die Botschaft des Films ist, dass die Reichen den Armen helfen sollen,“ meint Aakash Rajhans. Er lebt seit zwei Jahren in Dharavi und bringt in der gleichen nur aus einem Raum bestehenden Abendschule wie Harikeri Slumkindern Computerkenntnisse bei. Den Film findet er bis auf den Titel „okay“. Denn er könne aufklären: „Viele wissen ja gar nicht, wie Indiens Arme leben.“ Selbst der indische Diplomat Vikas Swarup, der den als Vorlage für den Film dienenden Bestseller „Q and A“ (auf Deutsch „Rupien, Rupien“) 2005 schrieb, war bis zur Verfilmung noch nie in Dharavi gewesen.

Nach Meinung indischer Linksintellektueller zeige der Film nichts Neues, könne aber im Ausland wie bei der eigenen ignoranten Mittel- und Oberschicht Augen öffnen. „Der Vorwurf, der Film sei Armutspornografie oder Armutsvoyeurismus, trifft nicht zu,“ meint Sitaram Yechury, Fraktionsvorsitzender der Kommunistischen Partei (CPI/M) im Parlament in Delhi. Der Film glorifiziere die Armut nicht. Doch für die Mehrheit der Inder biete er nichts Neues: „Sie brauchen nicht das Buch ‚Der weiße Tiger‘ oder den Film ‚Slumdog Millionaire‘, weil sie die darin beschriebene Realität täglich erleben.“ Doch leider brauche es offenbar international bekannte Regisseure, damit Filme, die solche Realitäten zeigten, von einem größeren Kreis wahrgenommen werden.

Die Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy findet die Darstellung der Armut im Film hingegen zu unpolitisch: „Der Film vermittelt die falsche Hoffnung, dass die Armen auch eines Tages Millionäre werden könnten.“ Es ist gerade diese unglaubliche Botschaft, die allen Befragten in Dharavi Hoffnung macht und mit der sie am wenigsten Probleme haben.