Die schrumpfende Stadt

Die Zahl der Städte, deren Einwohnerschaft zurückgeht, wächst. In Deutschland ist dieses Phänomen im Osten besonders auffällig. Die Bundeskulturstiftung untersucht das Problem des Schrumpfens

von DANIEL DAHM

Es ist schon erstaunlich, dass ökonomische, soziale oder auch ökologische Krisenerscheinungen erst dann ins Bewusstsein der Politik rücken und der Neugier der Medien ausgesetzt sind, wenn die schmerzhaften Nebeneffekte so weh tun, dass man sie politisch, ökonomisch und sozial nicht mehr ignorieren kann. Das Projekt „Schrumpfende Städte“ der Bundeskulturstiftung profitiert von dieser neuen Aufmerksamkeit. Der Projektleiter Philipp Oswalt, Autor des Buches „Berlin – Stadt ohne Form“, Architekt und Publizist, hat ein interessantes Konsortium von Wissenschaftlern, Künstlern und Architekten zusammengestellt, das sich der Thematik der schrumpfenden Städte auf eine neue Weise nähert. Weitere Kooperationspartner sind die Architekturzeitung Arch+, die Stiftung Bauhaus Dessau und die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Das Projekt ist Teil des Programms „Kunst und Stadt“, und in diesem Sinne ist auch sein innovativer Ansatz zu verstehen. Wie alle Projekte, die auch einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgen, hat es das Interesse, Erkenntnisse und Analysen zum Phänomen „Schrumpfende Städte“ zu vertiefen.

Dabei steht jedoch weniger die Erhebung der vielfältigen Erscheinungsformen und Ursachenanalysen im Vordergrund als die Dokumentation dieses neuen zivilisatorischen Musters. Die gebaute und gelebte Stadt ist sicher eine der komplexesten kulturellen Manifestationen von Gesellschaft und Gemeinschaft. Wandelt sich die Stadt, so wandeln sich auch kulturelle Ausdrucksformen. Schrumpfung ist also kein Problem, das mit dem Abbau von Wohnungsleerstand geklärt wäre. Wenn sich Stadtbrachen ausbreiten und sich als Muster von potenziellen Freiräumen über den Stadtraum ziehen, öffnen sich neue Gestaltungsräume. Wenn sich die Stadt fragmentiert, soziale Sicherungssysteme versagen, die Stadt als Integrationsmaschine versagt, bauen sich Polaritäten auf. Die Menschen suchen sich alternative Versorgungssysteme, bilden Solidargemeinschaften, bauen informelle Kooperationsnetze jenseits von Markt und Staat auf. Andererseits fallen sie auch aus sozialen Netzen heraus, gleiten in Armut ab, und der Zugang zu gesellschaftlicher Teilnahme verschließt sich. Der Bauraum Stadt ist schließlich nur noch erstarrte, Stein gewordene Erinnerung an vergangene Funktionen und Anforderungen.

„Shrinking Cities“ untersucht den kulturellen Wandel in diesen Städten, die Konflikte und Zukunftsmöglichkeiten, die er bedingt. Dazu werden vier Standorte beispielhaft in den Blick genommen – Detroit in den USA, Iwanowo in Russland, Manchester und Liverpool in Großbritannien sowie Halle und Leipzig in Deutschland. Über diese Auswahl soll ein weltweites Spektrum von Schrumpfungserscheinungen und deren kulturellen Ausdrucksformen analysiert und dokumentiert werden. So soll ein Ausblick auf die Phänomenologie der schrumpfenden Städte gegeben werden.

Das Projekt will die Kultur des Schrumpfens erfassen. Es wirft Schlaglichter auf die wachsenden Nischen in schrumpfenden Städten, wo das Alte geht und die Krise Neues gebiert, wo viele Annahmen, die wir heute noch von städtischer Kultur haben, in Frage gestellt werden: Spot on auf die Stadt in der Krise.

Hierin liegt wohl der größte Reiz des Projekts. Für den Herbst 2004 ist die Ausstellung „Shrinking Cities“ in den Kunst-Werken Berlin, einer Initiative für zeitgenössische Kunst, angekündigt. Hierfür ist eine Videoinstallation mit dem Filmteam Antje Ehmann, Michael Baute und Harun Farocki geplant, eine Art „Lexikon kinematografischer Expressionen“ schrumpfender Städte. Sarah Cohen vom Institute of Popular Music der Uni Liverpool widmet sich den neuen Musikkulturen, vom Postpunk der späten 1970er-Jahre bis zum HipHop in Manchester, über den Techno und House in Detroit bis hoffentlich auch zum russischen Industrial der Gegenwart. Außerdem sind Beiträge von weiteren KünstlerInnen geplant, ergänzt um wissenschaftliche Analysen und Interpretationen von Architekten, Soziologen und Stadtökonomen. Gelänge es, die Breite der Erscheinungsformen der „Kultur des Schrumpfens“ aufzuzeigen und verstehbar, aber auch erfühlbar zu machen, ohne ihre analytische Tiefe einer plakativen Kulturromatik zu opfern, wäre dies eine große Leistung.

Das Gesamtprojekt beansprucht immerhin 3,2 Millionen Euro der Bundeskulturstiftung. Durchaus nicht zu viel für ein ehrgeiziges Projekt, dass sich ja nicht nur die künstlerisch-dokumentarische Audiovisualisierung schrumpfender Städte zur Aufgabe gemacht hat, sondern den Anspruch hat, „Interventionen für Ostdeutschland“ anzustoßen und umzusetzen. Das soll heißen, neue Strategien für städtische Zukünfte zu entwickeln, neue räumliche Netzwerke zu konzipieren, neue Formen des Gebrauchs und der Aneignung städtischer Räume zu (er-)finden und die Wahrnehmungen und Vorstellungen von Stadt kritisch zu reflektieren. Hierzu werden 2004 ein internationaler offener Wettbewerb von Arch+ angestoßen und Werkaufträge und Stipendien über Bauhaus Dessau und die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig vergeben.

Uns erwartet also ein Bündel wissenschaftlicher wie künstlerischer Zugänge zum Thema „Schrumpfende Stadt“. Wir sollten viel erwarten. Und wir dürfen gespannt sein.