: Papa waren die Rolling Stones
Ist die Geschichte des Blues eine weiße Erfindung? Das Buch „Escaping The Delta“ von Elijah Wald hat in den USA eine scharfe Kontroverse ausgelöst: Er weist nach, dass Künstler, die keine Rock-’n’-Roll-Vorläufer waren, systematisch vergessen wurden
VON RENÉ MARTENS
Welche Kunden hat die Tonträgerindustrie derzeit am liebsten? Es sind, darüber sind in den letzten Wochen einige launige Abhandlungen verfasst worden, die Fourtysomethings, denn die kaufen schon mehr Platten als die Teenager, die andere Wege der Musikbeschaffung kennen. Die Boring Old Farts, wie man sie vor rund zweieinhalb Jahrzehnten noch genannt hat, müssen natürlich bei Laune gehalten werden.
Gerade recht kommt da die kleine Renaissance des Blues, die im vergangenen Jahr ausgelöst wurde, als der Blues offiziell 100 Jahre alt wurde. Unter der Oberaufsicht von Martin Scorsese entstanden sieben Dokumentarfilme zur Geschichte dieser Musik, wovon drei in den letzten Wochen in Deutschland ins Kino gekommen sind; der Konzertfilm „Lightning In A Bottle“ folgt Anfang August. Darüber hinaus stehen die Soundtracks zu den Liebeserklärungen in den Regalen, und unter den Titeln „Martin Scorsese Presents The Blues“ beziehungswiese „The World of the Blues“ sind bei Sony und Universal auch zahlreiche neu zusammengestellten Künstler-Retrospektiven erschienen. Ach ja, und Zweitausendeins hat seinen letzten Katalog mit Blues-Platten aufgemacht.
Brächte ausgerechnet der Blues der Branche in der derzeitigen Krisensituation einen kurzen warmen Regen, wäre das paradox, schließlich haben gerade die Plattenindustriellen die Protagonisten des Genres skandalös behandelt. Noch 1971 und 1973 schwatzte der Musikverlag Arc Publishing, eine Tochterfirma von Muddy Waters’ langjährigem Label Chess Records, dem Analphabeten Waters Unterschriften ab, mit denen er ihnen, zum Teil rückwirkend für 25 Jahre, das Eigentum an seinen Songs überschrieb. Im Dezember 1976 strengte Waters, endlich, einen Prozess an, dessen Streitwert sich auf siebeneinhalb Millionen Dollar belief und der mit einem Vergleich endete.
Daran erinnert Robert Gordon in seiner gerade auf Deutsch erschienenen Biografie „Muddy Waters – Pate des Electric Blues“ (Hannibal Verlag, 420 S., 25,90 Euro), und wenn man diese Recherchen auf sich wirken lässt, kommen einem all die aktuellen Klagen darüber, dass beim illegalen Downloaden Künstlerrechte verletzt werden, plötzlich ziemlich dekadent vor. In Zeiten, in denen Pop aller Art recycled und wieder veröffentlicht wird, überrascht es kaum, dass auch dem Blues wieder Leben eingehaucht werden soll. Da sämtliche Substile und Mikro-Retro-Trends friedlich koexistieren und es keine Musik gibt, die partout als out gilt, ist eine wohlwollende Rezeption so gut wie sicher. Hinzu kommt, dass die jüngeren Fans Blues-infizierter Indie-Rocker wie The White Stripes oder The Kills Gefallen an der historischen Aufarbeitung finden dürften. Für die filmische Vergangenheitsbewältigung war es im Übrigen höchste Zeit: Allein drei Personen, die in der von Scorsese betreuten Reihe vorkommen, sind mittlerweile verstorben, darunter Sam Philipps (1923–2003), der, bevor er Elvis Presley veröffentlichte, bereits Blues-Musiker wie Howlin’ Wolf förderte.
Über den Blues kursieren viele Wahrheiten – zumal das Leben vieler früh verstorbener Innovatoren nur unzureichend dokumentiert ist –, und wie stark konstruiert gerade die bekanntesten sind, hat nun Elijah Wald in einer fulminanten und in den USA heftig diskutierten Abhandlung nachgewiesen: „Escaping the Delta. Robert Johnson and the Invention of the Blues“ (Amistad Press, 342 S., 23,50 Euro). Die Biografie Johnsons – er starb mit 27, weil ein Nebenbuhler ihm Gift in den Whisky gemixt hatte – dient als Beispiel für eine Dekonstruktion der Blues-Geschichte. „Was die Entwicklung der schwarzen Musik betrifft, war Robert Johnson eine extrem randständige Figur, und sehr wenig von dem, was in den Jahrzehnten nach seinem Tod passierte, wäre davon beeinflusst worden, wenn er niemals eine Note gespielt hätte.“
Das ganze Missverständnis lässt sich laut Wald mit einer Anleihe bei der Literaturtheorie erklären. Er zitiert Jorge Luis Borges, dem zufolge „jeder Autor seinen eigenen Vorläufer schafft“. Wald kritisiert, dass in den Sechzigerjahren jeder Blues-Künstler, der sich im Nachhinein nicht als Einfluss der Rolling Stones, der Yardbirds oder anderer weißer Rockbands einordnen ließ, quasi aus der Geschichte gelöscht wurde. Beispiel: Leroy Carr. Sein Tod entsprach dem Blues-Klischee – er starb 1935 im Alter von 30 Jahren an Alkoholmissbrauch –, aber ein Nachleben als Legende war ihm nicht vergönnt. „Er klang nicht wütend oder gehetzt“, schreibt Wald, „er spielte nicht einmal Gitarre.“ Nee, bloß Piano – und vor allem kam Carr nicht aus dem Staate Mississippi, wo, so malten es sich die Weißen aus, die Muttererde des Blues lag.
So kommt es, dass Robert Johnson für das heutige Pop-Publikum einer der wenigen geläufigen Blues-Namen ist – weil es die Rolling Stones ohne ihn nicht gegeben hätte –, wohingegen der Künstler zu Lebzeiten unter Blues-Fans kaum bekannt war. Ja, Wald hat sogar die Erfahrung gemacht, dass afroamerikanische Blues-Fans von heute nichts mit dem Namen anzufangen wissen. Während die etablierte Geschichtsschreibung der weißen Kritiker und Musiker „Blues durch das Prisma des Rock ’n’ Roll gefiltert hat“, wie Wald kritisiert, will er die Musik aus der Zeit heraus verstehen, in der sie entstanden ist.
Ein Beispiel für die Geschichtsverfälschung der Weißen rekapituliert auch Waters-Biograf Gordon: Alan Lomax, der mit seinen 1941 begonnenen Aufnahmetouren quer durch die USA einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst die Existenz vieler Blues-Künstler dokumentierte, habe enorm von den Studien des Afroamerikaners John Work profitiert, dessen Forschungstätigkeit aber „praktisch zum Verschwinden“ gebracht. Elijah Wald attackiert außerdem „die weiße Kult- und Museums-Mentalität“, deretwegen „die gesamte Idee vom Blues als schwarze Popmusik verschwunden ist“.
Aber vielleicht besänftigt es ihn ein bisschen, dass der museale Charakter des Blues nach Erscheinen seines Buchs ein bisschen aufgeweicht wurde: Little Willie Johns Blues-Nummer „Fever“, 1956 geschrieben und später von Elvis gecovert, findet gerade mal wieder neue Hörer, weil Beyoncé Knowles sie im Soundtrack zu „Fighting Temptations“ covert. Und der HipHop-Koloss Common hat die ehemalige Muddy-Waters-Band produziert.
Wald missfällt nicht zuletzt, was Georg Seeßlen in der Juli-Nummer von Konkret „die paradoxe Künstlichkeit in der Suche des weißen Mittelständlers nach dem ‚echten‘ Blues“ nennt. Auch Kollege Gordon – und das schmälert seine nicht zuletzt für Fußnotenapparatschicks attraktive Biografie über Muddy Waters – scheint zu diesen „Mittelständlern“ zu gehören. Über die Mitte der Siebzigerjahre schreibt er: „Der mechanische Puls des Discosounds, der über die Nation fegte, stand im krassen Gegensatz zum natürlichen Rhythmus und Schwung des Blues.“
Der Blues-Revisionist Wald dagegen macht deutlich, wie reduktionistisch solche Ideologeme sind. Als weiße Stadtbewohner in den Zwanziger- und Dreißigerjahren den Blues für sich entdeckten, schufen sie den Mythos, dass dies die authentische Leidensmusik schwarzer Arbeiter und Bauern sei. Dass Blues auch für Humor steht und für professionelles Entertainment, ist bis heute außen vor geblieben. Wald: „So schwierig es für die Blues-Fans von heute zu akzeptieren sein mag, die Künstler, die wir am meisten bewundern, träumten nicht von andauernder künstlerischer Reputation, sondern davon, in ihrer Zeit ein Popstar zu sein.“
Auch wenn ihm das entweder nicht bewusst ist oder es ihn nicht sonderlich kümmert: Der Autor zertrümmert damit en passant auch das Fundament eines anderen Mythos. Ohne die Legende vom lebensechten Blues hätte es den Rockismus, der ein paar Jahrzehnte lang authentischen Rock gegen künstlichen Pop ausspielte (und in einigen seltsamen Biotopen auch noch verbreitet sein mag), nie gegeben. Eine Vorstellung davon, dass Blues auch glamourös und exzentrisch sein kann, vermittelt beispielsweise Bobby Rush, der zu den prägenden Figuren in Richard Pearces Film „The Road to Memphis“ gehört und im Soundtrack mit zwei Stücken vertreten ist. Er wirkt divenhaft (an seinem durchgestylten Bühnenoutfit arbeitet er bis zur letzten Sekunde), aber auch bodenständig (der 63-Jährige lebt sechs Tage die Woche im Bandbus, der ihm selbst gehört und den er oft auch noch steuert). Sein Blues, auf der Bühne mit bis zu 20 Leuten aufgeführt, darunter einige Tänzerinnen, ist ziemlich funky, und sein ausschließlich afroamerikanisches Publikum immer elegant gekleidet – so uncharismatisch manche Auftrittsorte auch sein mögen.
Sogar den Kriterien der beamtoiden Hipness-Verwalter dürfte der Blues mittlerweile genügen – spätestens nachdem die allseits bewunderten Trüffelschweine vom Londoner Reissue-Label Soul Jazz das Doppelalbum „Chicago Soul – Electric Blues, Funk & Soul. The New Sound of Chicago in the 1960s“ veröffentlicht haben. Hier wird dokumentiert, wie bei Chess Records seinerzeit Blues und Soul zueinander fanden und Muddy Waters und Howlin’ Wolf kurzzeitig auf den Funk kamen. Dass Chess mit seinen Künstlern freilich nicht gerade edel umgesprungen ist – dazu findet sich, ein Schönheitsfehler der alten weißen Schule, in den Liner Notes kein Wort.