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Archiv-Artikel

Alte haben‘s wirklich drauf!

Fünf gängige Vorurteile über alte Menschen – und warum genau das Gegenteil der Fall ist

VON GERTRUD M. BACKES, WOLFGANG CLEMENS UND FRANÇOIS HÖPFLINGER

1. Wir können uns Alte leisten!

Vorurteil: Die demographische Alterung sprengt den Sozialstaat, macht Renten, Gesundheitskosten und Pflege immer weniger bezahlbar.

Gegenargumente: Nur ein geringer Teil der steigenden Gesundheitskosten ist auf die demographische Alterung zurückzuführen. Der Anstieg hängt vielmehr von der zunehmenden Ärztezahl, den höheren Preisen für Medikamente und Kosten der Apparatemedizin ab. Nach einer OECD-Studie geht nur ein Fünftel der Kostensteigerung im Gesundheitswesen auf demographische Alterungsprozesse zurück, vier Fünftel dagegen haben andere Ursachen. Der größte Anteil medizinisch begründeter Kosten im Alter entsteht im letzten Lebensjahr, ein Hinausschieben durch Alterung der Patienten wirkt kaum kostensteigernd. Durch einen Beitrag zur Krankenversicherung leisten auch nicht mehr erwerbstätige ältere und alte Menschen ihren Anteil an der Finanzierung.

Die Rentenversicherung ist an Einkommen durch Erwerbsarbeit gekoppelt. Insofern sind die Probleme der Rentenversicherung und steigender Beiträge vor allem in der Massenarbeitslosigkeit und nicht in der steigenden Zahl der Rentner begründet. Weil ältere Menschen bei zunehmender Lebenserwartung auch immer häufiger gesund altern und länger selbstständig bleiben, entgehen wir dem so oft prognostizierten „Pflege-GAU“. Demographische Alterung ist ein Beleg für die zivilisatorische Entwicklung einer humanen Gesellschaft. Es gibt kein Modell für einen demographisch richtigen Aufbau der Bevölkerung. Kostensteigerungen sind eher auf politische Fehlentscheidungen als auf eine Alterung der Gesellschaft zurückzuführen.

Fazit: Die demographische Alterung ist nicht an allem Schuld, sondern sie wird zum Sündenbock für das Versagen von Sozial- und Gesellschaftspolitik gemacht.

2. Mythos Generationenkonflikt

Vorurteil: Die Generationenbeziehungen haben sich aufgrund zunehmender Individualisierung und pluralisierter Lebensformen generell verschlechtert. Früher gab es mehr gegenseitige Hilfe und Unterstützung, also mehr Solidarität zwischen den Generationen, heute und in Zukunft wird bei steigendem Egoismus von Jung und Alt vielleicht sogar mit einem „Generationenkrieg“ um entstehende Kosten und knappe Mittel zu rechnen sein.

Gegenargumente: Alle gerontologischen Studien (z. B. die Berliner Altersstudie oder der Alterssurvey) zeigen übereinstimmend, dass die Generationenbeziehungen gegenüber früher gefühlsmäßig eher enger und intensiver geworden sind. Die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen wie auch zwischen Müttern und Töchtern haben sich qualitativ verbessert, auch Großeltern haben heute mehr Kontakte zu ihren Enkeln als in früheren Zeiten. Materielle und instrumentelle Unterstützung laufen ebenso wie emotionale Zuwendungen in beide Richtungen zwischen Alt und Jung, auch wenn sich die Formen nach der Generationenzugehörigkeit unterscheiden können. Die innere Nähe hat durch mehr räumliche Distanz zwischen den Generationen – wie das Leben in getrennten Haushalten (Multilokalität) und verschiedenen Städten – kaum gelitten, sehr viele Ältere haben mindestens ein Kind, das im selben Ort oder in der Nähe wohnt. Der Ausbau einer eigenständigen, auskömmlichen Lebenssicherung im Alter kann als Voraussetzung für geringere gegenseitige Abhängigkeiten und als Basis für mehr frei gewählte Beziehungen und größere Nähe gelten. Entgegen öffentlichen Hiobsprognosen wird deshalb auch in Zukunft die Solidarität der Generationen bestehen bleiben.

Fazit: Der von manchen prognostizierte „Krieg der Generationen“ ist und bleibt ein Mythos. Im Gegenteil: Die gegenseitige Unterstützung zwischen Jung und Alt macht den Sozialstaat weiterhin bezahlbar und bildet den Kitt zwischen den Gesellschaftsgruppen.

3. Alte: innovativ & neugierig

Vorurteil: Ältere Menschen sind nicht mehr oder kaum noch lern- und leistungsfähig.

Gegenargumente: Alle gerontologischen Studien zeigen eindeutig, dass sich Lern- und Leistungsfähigkeit erhalten und im Alter sogar mobilisieren lassen. Als Beispiel kann die steigende Teilnahme von älteren Menschen an Internetkursen genannt werden. Die über 60-Jährigen haben die höchsten Zuwachsraten bei der Nutzung elektronischer Medien. Es zeigt sich dabei auch, dass Ältere durchaus innovativ sein können. Dass ältere Arbeitnehmer im beruflichen Feld öfter als jüngere scheitern oder vorzeitig ausgemustert werden, liegt daran, dass in ihre Lern- und Leistungsfähigkeit nicht mehr investiert wird und sie durch einseitige Vergleiche mit jüngeren Kollegen demotiviert werden.

Allerdings fordert das Altern auch seinen Preis: Es muss von einem Leistungswandel im Alter ausgegangen werden. Schnelligkeit und Kraft lassen tendenziell nach, dafür nehmen Erfahrung, konzentriertes Wissen und soziale Kompetenzen zu. Gedächtnis- und Muskeltraining sind bis zum Lebensende wirksam, notwendige berufliche Ausdauerleistungen sind bei den meisten älteren Arbeitnehmern bis weit über die offiziellen Altersgrenzen hinaus möglich. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit ist, ob während des (Berufs-)Lebens die Lernbereitschaft und -fähigkeit erhalten wird. Die künftigen Altersgenerationen werden viel stärker als frühere lebenslanges Lernen praktizieren (müssen). Daher kann mit einer steigenden Zahl aktiver und leistungsorientierter älterer Menschen gerechnet werden.

Fazit: Der alte Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist in dieser einfachen Form out. Die Gesellschaft hingegen muss lernen, mit leistungsbereiten und lernfähigen älteren Menschen umzugehen und ihnen Raum zur Entfaltung zu geben. Bei den älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen kann dies in den nächsten Jahren geübt werden.

4. Jeder altert anders

Vorurteil: Das Alter macht die Menschen eher gleich, weil ja alle alt werden müssen und biologische Faktoren immer bedeutsamer werden.

Gegenargumente: Die gerontologische Forschung zeigt eindeutig eine zunehmende Verschiedenheit und Ungleichheit mit dem Alter. Das Leben im Alter ist die Konsequenz vorheriger Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen. So bilden sich ökonomische und soziale Ungleichheiten mit dem Alter stärker heraus. Das heißt auch, dass die Stärkung der Solidarität zwischen und innerhalb der Generationen bedeutsam ist. Außerdem entwickeln Menschen mit steigendem Lebensalter immer stärkere Unterschiede hinsichtlich der Lebensformen und Lebensstrategien. So zeigt eine neuere Heidelberger Studie mit über 100-Jährigen, dass diese zwar alle gelernt haben, sehr lange zu leben, sonst aber relativ wenig Gemeinsamkeiten aufweisen.

Die Modelle eines aktiven Alterns verstärken die individuellen und sozialen Unterschiede und Ungleichheiten noch zusätzlich: Wer von Kind an lernt, seinen Körper und seinen Kopf zu trainieren, seine sozialen Beziehungen und seine Gesundheit zu pflegen, sich immer wieder neu zu orientieren, Übergänge und Verluste zu bewältigen, der hat große Chancen, dies bis ins hohe Alter zu praktizieren und anders – sprich: besser – zu leben und zu altern als jemand, bei dem dies alles eher nicht der Fall ist.

Fazit: Zuordnungen, Regelungen oder Einteilungen nach dem kalendarischen oder chronologischen Alter – wie eine Altersgrenze beim Ausstieg aus der Erwerbsarbeit und Rentenbeginn – werden immer weniger sinnvoll.

5. Das Alter ist auch männlich!

Vorurteil: Die Frauen haben eine höhere Lebenserwartung, und das weibliche Übergewicht dominiert das Bild von älteren Menschen in der Gesellschaft.

Gegenargumente: Tatsächlich sind die Frauen im hohen Alter in der Überzahl. Sie tragen den Hauptanteil der so genannten Alterslast: als beruflich und privat Pflegende und als Gepflegte im hohen Alter, als am stärksten von sozialen Problemen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Alters Belastete. Qualitativ dominieren jedoch noch immer männliche Altersmodelle. Am männlichen Altern orientierte Problemdefinitionen wie Lösungsansätze stehen im Zentrum öffentlichen und sozialpolitischen Interesses. Typisch hierfür ist zum Beispiel die einseitige Diskussion um ältere Arbeitnehmer, um die Wirtschaftskraft der Alten, um eher männliche Probleme mit dem Berufsausstieg und der Rentenversicherung (als an den männlichen Normalerwerbsverlauf gekoppelte Alterssicherung).

Frauen hingegen werden nach wie vor stärker und spürbarer altersdiskriminiert (z.B. als Arbeitskraft, aber auch in privaten Rollen, etwa als Partnerin, als Mutter). Sie werden früher körperlich und sozial als alt angesehen und stärker an jugendlichkeitsdominierten Schönheits- und Leistungsidealen gemessen. Zum Teil wird bereits eine Annäherung der Geschlechter mit dem Alter beschrieben: Nach der Lebensmitte entwickeln Frauen mehr männliche Ansätze und leben sie aus. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass Männer ihr Altern besser bewältigen, wenn sie auch weibliche Lebenselemente entwickeln.

Fazit: Noch ist das Alter nicht wirklich weiblich. Doch Lebensqualität im Alter geht offenkundig mit der stärkeren Entwicklung und dem Ausleben weiblicher und nicht nur männlicher Lebenselemente und Formen der Lebensbewältigung einher. Auf dieser Basis lassen sich Überlegungen hinsichtlich der Gestaltung des Lebenslaufs, der Arbeitsteilung über die Lebensphasen, der Gesundheitsvorsorge und der Vereinbarung verschiedener Lebens- und Arbeitsbereiche usw. ableiten.