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Archiv-Artikel

Am Ende der Pionierzeit

taz-Serie „Gelebte Utopien“ (Teil 4): Das Friedensdorf Storkow ist im Alltag angekommen. Heute fürchten sich seine in- und ausländischen Bewohner nicht mehr vor randalierenden Nazis, sondern vor der institutionalisierten Intoleranz der Politik

VON VERENA HEYDENREICH

Die Wohnungstür geht kaum auf. Im Flur stapeln sich zwei Betten. Die alten haben so gequietscht, dass die beiden Kinder der Familie Jurado immer aufgewacht sind, wenn eins sich umdrehte. Vater Alvaro entschuldigt sich für das Chaos und führt den Besuch zur Sitzgruppe. Die Wohnung im ersten Stock mit Balkon i st hübsch eingerichtet, obgleich alle Möbel aus Spenden stammen – wie fast überall im Friedensdorf Storkow.

Familie Jurado stammt aus Kolumbien und beantragte in Deutschland Asyl. Noch wissen sie nicht, ob und wie lange sie bleiben können. Im brandenburgischen Friedensdorf wohnen sie seit knapp zwei Jahren und wirken zufrieden. „Im Asylbewerberheim war es auch gut, es gab viele Kulturen“, sagt der Mann. „Aber wir haben kein richtiges Deutsch gelernt. Hier machen wir viel mehr mit Deutschen.“ Er und seine Frau würden sehr gern in Storkow bleiben, sich integrieren und arbeiten. Es könnte ein gutes Leben sein. Bis jetzt haben sie nur eine Aufenthaltserlaubnis bis Oktober. Wie es weitergeht, befürchten sie, wird sich erst kurzfristig entscheiden. Vielleicht gehören die Jurados schon im Herbst zu den vielen Asylbewerbern, die Deutschland wieder verlassen müssen. Unfreiwillig. Abgeschoben.

Im Friedensdorf Storkow wohnen etwa 50 Erwachsene und 30 Kinder unter 14 Jahren, ein Drittel aller Bewohner sind Ausländer. 1993 wurde das Dorf gegründet. Eine Zeit, in der nach Anschlägen von Rechtsradikalen in Mölln und Solingen, das Thema Rassismus auf der Tagesordnung stand. Die Stimmung war gereizter als heute: Der Hass gegenüber Nichtdeutschen offensichtlicher, die Parteinahme für eine multikulturelle Gesellschaft entschiedener. Rupert Neudeck, damals Chef vom Notärztekomitee Cap Anamur, wollte etwas tun gegen rechte Gewalt. Die Organisation kümmert sich bis heute vor allem um Flüchtlinge – nicht nur auf hoher See – sondern auch um Menschen in Kriegsgebieten. Neudeck versandte aber generelle Denkanstöße in die Gesellschaft, etwa mit seiner Idee: „Häuser aufbauen, nicht abbrennen.“

Friedensdörfer – gebaut von arbeitslosen Jugendlichen, für Deutsche und Ausländer. Bauen als Signal. Die damalige Bürgermeisterin von Storkow, Gabriele Baum, hörte von den Plänen und setze sich für den Bau eines Friedensdorfs in ihrer Gemeinde ein. „Wir wollten nicht nur reden, sondern zeigen, dass Deutsche und Ausländer zusammen wohnen können und sich gegenseitig bereichern“, erinnert sich die ehemalige Bürgermeisterin und heutige Vereinsvorsitzende.

Die vage Idee nahm in mehreren Jahren langsam Gestalt an. 1995 stellten Bautrupps aus arbeitslosen Jugendlichen die ersten Reihenhäuser fertig. Ein Jahr später folgten Wohnungen mit Terrasse oder Balkon. 1997 kamen noch das Büro und ein Veranstaltungssaal dazu. Die Häuser konnten aus Spenden gebaut werden, die Mieten bilden jetzt die Haupteinnahmen des Vereins. Für die dann folgende, weniger spektakuläre Kleinarbeit ist die Sozialarbeiterin Ute Ulrich da. Von ihrem Büro aus blickt sie nach draußen auf den begrünten Platz in der Mitte der kleinen Siedlung. Die Terrassentür steht offen, die Bewohner können ohne Umweg über den Flur direkt eintreten. Ulrich hilft den Familien wenn sie zum Ausländeramt müssen, spendet Trost, schlichtet Streit und leistet nachbarschaftliche Hilfe. Die Hälfte ihrer Stelle ist gefördert, den Rest zahlt der Verein. Eine weitere Mitarbeiterin, Olga Gräser, ist seit kurzem über die Strukturförderung der Stadt dazugekommen. Die zwölf Vereinsmitglieder arbeiten allesamt ehrenamtlich.

Einer der ersten deutschen Mieter war Frank Hennig. Er kam aus Überzeugung, wollte gern mit Ausländern zusammenwohnen. „Auch wenn ich Angst vor Übergriffen hatte“, wie er heute sagt. Anschläge von Rechten fürchtet das Friedensdorf schon lange nicht mehr. „Die Situation hat sich entschärft“, erklärt die Vereinsvorsitzende. „Die Storkower sind wesentlich offener als zu Beginn des Miteinander-leben-Experiments. Es gibt immer noch welche, die uns noch nie hier besucht haben.“

Ausländer sind noch längst keine Selbstverständlichkeit im Ort. „Fremde fallen auf“, weiß Baum, „und werden erst mal angeguckt.“ Wichtig ist dem Verein deswegen nicht nur gute Nachbarschaft mit den Storkowern, sondern auch die Vernetzung mit anderen Trägern von Jugendarbeit und interkultureller Begegnung. Ute Ulrich will Kontakte zwischen Ausländern und Deutschen nicht nur innerhalb des Friedensdorfes, sondern in der ganzen Region herstellen. „Die meisten reden nur über Ausländer“, sagt sie. „Wir wollen, dass man sich begegnet.“ Regelmäßig kommen Schulklassen zu Besuch, etwa um mit einem Klassenkameraden aus dem Friedensdorf und seiner Familie zu kochen. Auch internationale Jugendgruppen sind häufiger zu Gast. Im Juli fand zum neunten Mal ein Workcamp statt. Jugendliche aus sieben Nationen haben gemeinsam am Ehrenmal für die Opfer faschistischer Gewalt und Krieg in Storkow gearbeitet und die Zugangswege erneuert. Die größten Probleme bereitet dem Verein heute aber nicht mehr die Intoleranz der Nachbarn, sondern die institutionalisierte Intoleranz der Ausländerpolitik.

Das Friedensdorf wollte ursprünglich 60 Prozent Deutsche und 40 Prozent Ausländer aufzunehmen, heute sind nur etwa ein Drittel der Mieter aus dem Ausland. „Es gibt einfach nicht so viele Ausländer, wir wir gern hätten“, sagt Baum. „Immer weniger Asylsuchende schaffen es nach Deutschland.“ Und die, die bleiben dürfen, finden in Storkow keine Arbeit.

Das Friedensdorf arbeitet mit dem Asylbewerberheim Haus Hoffnung im nahen Fürstenwalde zusammen. Freie Wohnungen werden an Asylsuchende vergeben – wenn diese Interesse haben, das Heim verlassen dürfen und die Zimmeranzahl zur Familiengröße passt. Bis auf einige Spätaussiedler sind die ausländischen Bewohner Asylbewerber: Neben den Jurados aus Kolumbien, gibt es eine Großfamilie aus Afghanistan, sowie eine fünfköpfige Familie aus der russischen Kaukasusrepublik Dagestan. „Die ständige Unsicherheit, wie lange die Familien bleiben können, ist das größte Problem“, sagt Gabriele Baum. „So fällt es viel schwerer, sich zu integrieren.“ Ute Ulrich erzählt, dass es für alle schlimm ist, wenn wieder eine Familie gehen muss. „Besonders die Kinder leiden, wenn zum wiederholten Male Freundschaften zerstört werden“, sagt sie.

Die Deutschen dagegen sind meist langjährige Bewohner und haben schon zahlreiche Wechsel ihrer ausländischen Nachbarn miterlebt. Kerstin Mankowski lebt schon einige Jahre in der Siedlung, momentan neben der Familie aus Dagestan. Sie zog hierher, weil die Wohnungen die ersten in Storkow waren, die behindertengerecht ausgestattet wurden. Ihre Tochter hat eine Sehschwäche. „Die Ausländer waren mir egal“, erinnert sich Mankowski. „Das ist doch ganz normal, mit Ausländern zusammenzuwohnen.“ Probleme gebe es kaum, Differenzen wegen Grillen über offenen Feuer hätte sie mal angesprochen. Aber auch sie stört, dass die ausländischen Nachbarn so oft wechseln. Das vierjährige Mädchen von nebenan klingelt inzwischen fast täglich, um mit ihrer Tochter zu spielen. „Das ist schön blöd für die Kinder, wenn die Familie jetzt gehen muss“, sagt Kerstin Mankowski. Statt „Ausländer rein oder raus“ geht es heute im Friedensdorf darum, wie sich das Zusammenleben ganz praktisch umsetzen lässt. Die gute Nachbarschaft steht dabei im Vordergrund. „Man kann auch mal den Schlüssel stecken lassen, und alle gucken nach den Kindern mit“, sagt die dreifache Mutter Mankowski. Auch deswegen denken alle langjährigen Mieter aus dem Friedensdorf gern an die bosnischen Familien zurück, die Mitte der 90er-Jahre dort lebten, bis sie Deutschland verlassen mussten: „Mit den Bosniern war es immer lustig“, sagt Kerstin Mankowski. Richtige Freundschaften seien da entstanden. Einige der bosnischen Familien waren nach ihrer Rückkehr oder Emigration in die USA schon zu Besuch in Storkow. Aber auch das ist für die Kinder nicht leicht, erzählt Ute Ulrich. Zwei befreundete Mädchen haben sich zum Beispiel gleich wieder wie früher verstanden. „Aber zusammen zu telefonieren lehnen sie ab“, sagt die Sozialarbeiterin. Auch Frank Hennig vermisst die Bosnier und wäre froh, wenn sie wieder zurückkommen könnten. Er findet, es wohnen zu wenige Ausländer im Dorf. Das ganze Projekt ist ihm schlichtweg zu normal geworden. „Die deutsche Mentalität stört manchmal“, sagt Hennig entschieden. „Die Pionierzeit ist vorbei“, fasst das die Vereinsvorsitzende Gabriele Baum zusammen. Wegziehen käme für Frank Hennig trotzdem nicht in Frage. Er will bis an sein Lebensende im Friedensdorf wohnen bleiben.