: Pinkfarbenes Schaumgetränk
Das Seebad Blackpool ist nichts für Feingeister. In dem englischen Amüsierparadies gehören Polonäsen, Biertrinken und Bingo zusammen. Jenseits von Bimmelbahn und Ponys befindet sich der Tower, Blackpools stolze Antwort auf den Eiffelturm
VON EGBERT HÖRMANN
Iberische Gestade und das Land der Griechen mögen mit Schnäppchen, Ruinen, ungewohnten Alkoholika und Sitten locken, aber die eigentliche Heimat des Urlaubs der britischen Werktätigen befindet sich im Norden des Landes zwischen den Arbeitslosenmetropolen Liverpool und Manchester in Lancashire an der Irischen See.
Blackpool ist das logische Produkt dieser trübsinnigen Industrielandschaft, die den Begriff „Manchesterkapitalismus“ erzeugte, aber für das „Salz der Erde“ ist es der schiere Himmel, ein absolut akzeptabler Ersatz für das Elysium. Blackpool, bei uns allenfalls als Veranstaltungsort von Parteitagen bekannt, ist ein Freizeitbiotop, das seinesgleichen sucht: Es ist Las Vegas und Ersatz-Mallorca in einem, es ist und bleibt die Costa Brava des Vereinigten Königreichs.
Blackpool ist der Hoffnungsschimmer hinter den Rauchwolken der Fabrikschornsteine von Oldham und Bolton. Es ist Englands frühestes und größtes Experiment in organisiertem Vergnügen – die Feier der Produktion wurde hier zur Produktion des Feierns. Diese Erholungsstätte ist eine britische Institution wie Fish ’n’ Chips, schrullige Lordschaften, Jack the Ripper, der Bobby, Harrod’s, der Pub und die TV-Serie „Coronation Street“ . Deshalb ist Blackpool nie vom Untergang bedroht, obwohl gewisse Urlaubsobsessionen (garantierter Sonnenschein, preisgünstiger Alkohol, wobei Blackpool weder das eine noch das andere garantieren kann) die Insulaner verstärkt zur umständlichen Reise in südlichere Gefilde verführen. Dennoch: Blackpool boomt. Die Stadt steht mit jährlich 16 Millionen Übernachtungen und mit weit über 3.500 Pensionen und Hotels an der Spitze britischer Seebäder.
Bei jeder Stadt ist die erste Annäherung wichtig, ebenso der Zeitpunkt. Blackpool betritt man also zu Ferienbeginn traditionellerweise am Bahhof mit tausenden glücklichen Familien aus der industriellen Armee. Die Ankunft am Bahnhof von Blackpool, fester jährlicher Bestandteil alter englischer Wochenschauen, ist deshalb eine ernsthafte Sache, weil es nach oft nur einer Woche Abschalten wieder zurückgeht zu lebensverkürzender Plackerei. Dies zu verstehen heißt, Blackpool zu verstehen. Wie die gotischen Kathedralen hat es sich aus dem Bedürfnis der Menschen entwickelt, an es zu glauben. Dieses mächtige, unschuldige Verlangen, sich einfach ein bisschen zu amüsieren, hat etwas geschaffen, was mangels anderer Begriffe „die Atmosphäre“ von Blackpool genannt werden muss.
Blackpool war immer eindeutig eine Klassenangelegenheit. Anders als die feinen Seebäder des Südens (Brighton oder Torquay) verfügte Blackpool nie über eine Aufsteigermentalität. Es pfeift auf Understatement, stattdessen hat es Seele. Oberstes Gebot ist hier der klare, der englischen Mittel- und Oberschicht fremde, ja widerwärtige Wille, sich im Kollektiv zu amüsieren: „Come on, reih dich ein, mach mit!“ Hier ist man zu Recht der Ansicht, dass einem Menschen, der Polonäsen ablehnt, nicht zu trauen ist.
Wie die des amerikanischen Coney Island, des Prototyps aller Vergnügungsparks, ist auch die Geschichte Blackpools mit der Entwicklung des Transportwesens verbunden. Tummelten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts hier noch die Angehörigen des niederen Adels, um Seewasser zu schlürfen, so brachte der Bau von Bahnstrecken und billigen Ausflugszügen, die den Wochenendverkehr stimulieren sollten, bald die Arbeiterfamilien aus ganz Lancashire herbei, die den Ort schnell für sich in Anspruch nahmen. Werktätige aus ganz England, aus Wales, Schottland und Irland folgten.
Böse Zungen sagen: Blackpool ist da, wo England am hässlichsten ist. Aber lassen wir diese Gemeinplätze (bierselige Horden, die sich an Ständen mit neckisch-verklemmten Postkarten drängen etc.), und wenden wir uns der Architektur Blackpools zu. Am Ende des 19. Jahrhunderts zog das deftige Blackpool bereits jährlich weit über eine Viertelmillion Besucher an. Der Massentourismus steckte noch in Babyschuhen, und die Verantwortlichen, die das Experiment Blackpool steuerten, dachten sich immer ausgefallenere Attraktionen aus, um Gäste anzulocken und sie bei Laune zu halten.
Die Resultate dieser Bemühungen versammeln sich im Zentrum und sind auch heute noch beeindruckend. Die Winter Gardens, das 1894 eröffnete Grand Theatre, die Oper und der alles überragende, ebenfalls 1894 eingeweihte Tower sind Beispiele exotischer Volkspaläste in großem Maßstab, und sie verfügen (fast ein Kennzeichen ihres besonderen Englischseins) über einen Hauch verzweifelter Selbstironie, die sie so liebenswert macht. Ihre Verwegenheit macht sie dabei über jeden Vorwurf der Vulgarität erhaben. Zusammen mit der Surrealität neuerer Gebäudekomplexe wie Pleasure Beach oder Sandcastle ergibt sich so die von Lichtern, Farben und fröhlichem Lärm erfüllte Collage eines Durchhalten!-Postmodernismus.
Wenn zum Ende der Saison in einem letzten Spektakel von Neon, den berühmten Leuchtfiguren und Laserstrahlen, die Promenade und der Strand auf einer Strecke von mehr als sieben Kilometern (!) erglühen, ist der Effekt dem Feuerwerk am Ende von „Apokalypse Now“ nicht unähnlich.
Während der Saison (Mai bis Oktober) ist praktisch jedes Bett ausgebucht, aber auch über Weihnachten wird Blackpool gern besucht – über 150.000 Menschen verbringen hier das Fest, das zur familiären Fete wird. Die empfehlenswerten Bed-and-Breakfast-Pensionen orientieren sich an den durchschnittlichen Annehmlichkeiten des britischen Heims (künstliche Kaminfeuer verbreiten ganzjährig mollige Behaglichkeit), doch es gibt natürlich auch die flaggenbeschwingten Hotelbunker mit Jacuzzibädern und Konferenzräumen. Aber Blackpool fühlt sich damit nicht richtig wohl. Es hat etwas Trostloses, übernächtigte, grüngesichtige Möchtegern-Yuppie-Pärchen im High-Street-Freizeitlook mit Portionspackungen Marmelade und gelben Croissants kämpfen zu sehen. Solche Anblicke sind hier so deplaziert wie Tiramisu auf dem Oktoberfest.
Wenn ein Phänomen eine derart erprobte, robuste Identität hat, weicht man nur auf eigene Gefahr vom traditionellen Weg ab. Und genau deshalb sitzen Sie jetzt in einem der neunzehn Zimmer des Woodley Hotel bei dem betreibenden Ehepaar John und Vera, beide scharf an den 70 vorbei, und der Lancashire-Dialekt übersteigt Ihr Schulenglisch bei weitem. Sowohl Vera als auch John nennen Sie nicht Kurt oder Hilde, sondern einfach nur „love“. Und alles sieht so … so englisch aus!
Ihnen kommt der Gedanke, dass das Klischee eine tiefe Wahrheit enthält, und jetzt fühlen Sie sich schuldig, weil Sie misstrauisch in den Frühstückswürstchen herumgestochert haben und weil Sie schon immer der Ansicht waren, dass Lady Di nur ein Playgirl war, und außerdem ist Deutschland dafür verantwortlich, dass Queen Mum in den Kriegswirren durch Schutt und Asche eiern musste, „um dem East End ins Auge blicken zu können“.
Holen Sie tief Luft, und entspannen Sie sich. Ich garantiere, dass Sie sich mit diesen Leuten ganz schnell sehr gut verstehen werden. Ich sehe Sie schon, wie Sie auch an Stammesriten wie dem „Dambuster-Marsch“ teilnehmen. Es kommt dabei darauf an, eine Polonäse aufzulösen und wie auf ein geheimes Kommando hin in mysteriöse Bewegungen zu verfallen: Sie strecken die Arme zur Seite und schaukeln nach links und rechts und im Kreis. Später erfahren Sie, dass damit die Flugzeuge symbolisiert wurden, die im Zweiten Weltkrieg westfälische Staudämme bombardierten.
Zu spät für einen Augenblick deutschnationaler Reue, denn soeben beschließt im Saal des „Savoy“ ein Medley aus „Britannia Rules the Waves“ und „Land of Hope and Glory“ diesen historischen Ausflug mit erhebendem Pomp.
Auch Blackpool hat seinen Korso. Er beginnt an der 1870 eröffneten Strandpromenade mit den drei Piers, die mit ihren Pavillons in die Irische See hineinragen, und erstreckt sich vom Star Gate im Süden bis zum North Shore Golf Course. Jenseits der Bimmelbahn und der Ponys für die Kleinen befindet sich der Tower, Blackpools stolze Antwort auf den Eiffelturm. Hinter ihm findet man endlose Reihen mit Vergnügungs- und Souvenirständen, Wettbüros, Bingo-Hallen und Spielkasinos. Der Tower-Komplex bietet zum Amüsement Undersea World, ein riesiges Aquarium, und den Tower Dungeon, ein wenig gruseliges Horrorkabinett. Am berühmtesten ist der pompöse Ballroom, ein Saal, dem keine vorhergehende Spekulation gerecht wird. Rokoko, Neuschwanstein und viktorianisches Hollywood zusammen, ist es ein herrlich atemberaubendes Interieur für einen Tanztee.
Am besten kommt man, wenn der Saal noch leer ist, und lauscht dem würdevollen Organisten im weißen Anzug, der sich an seiner Mighty Wurlitzer warm spielt. Später wird sie auf einer hydraulischen Rampe nach oben fahren und mit „The Last Waltz“ den Schwof für alle Generationen eröffnen. Hier hört man noch formvollendet: „Darf ich um diesen Tanz bitten?“, und Körbe werden da nicht verteilt. Hat man es sich erst einmal mit einem pinkfarbenen Babycham-Schaumgetränk gemütlich gemacht, sollte man sich vor allem in die Betrachtung jener vorbeischwebenden älteren Herrschaften vertiefen, die noch wissen, was ein Slowfox ist. Some dance to remember, some dance to forget. Viele dieser entzückenden Paare sind erstaunlich ausdauernd und elegant, selbst für den, der für den Reiz von Lurexfliegen, Haarspraywolken und die Absurdität von Rüschenkaskaden und Kandinsky-Schulterpolstern nicht empfänglich ist.
Die Fahrt auf die Aussichtsplattform (518 Fuß hoch) bringt danach hingegen leider James Stewarts Problem in Hitchcocks „Vertigo“ in Erinnerung, und oben angelangt, hat man zwar eine Aussicht, aber sie scheint zu weit weg zu sein, um irgendeine Bedeutung haben zu können. Dann doch lieber noch einen mondbeschienenen, barfüßigen Spaziergang auf dem feinen Sandstrand.
Voilà Blackpool. Für die kleinen Leute Britanniens ist es wie der Besuch einer intakten Großfamilie (Kriminalität gibt es praktisch nicht), für andere mag es je nach Temperament eine altmodische Absonderlichkeit oder ein ästhetischer Wirrwarr sein. Blackpool nimmt’s gelassen.
Blackpool rules. Es ist ein erfolgreiches Experiment in organisiertem Vergnügen, und wie jedes große Experiment hat es seine Monster erzeugt und seine Opfer gefordert, aber zu seinem Konzept gehört die tröstliche Ermunterung, zu lachen und sich nicht allzu ernst zu nehmen – jedenfalls vorerst noch nicht.
Information: Blackpool Tourismus-Center: Telefon (00 44) 12 53/2 52 12, Telefax (00 44) 12 53/2 63 68 Britisches Fremdenverkehrsamt, Westendstraße 16–22, 60325 Frankfurt am Main, Tel. (0 18 01) 46 86 42, Internet: visitbritain.de Unterkunft: Das Touristencenter in Blackpool verschickt Broschüren mit der detaillierten Beschreibung von Unterkünften. Charme haben vor allem die privaten und preisgünstigen Bed-and-Breakfast-Pensionen. Ein Muss ist ein Besuch eines der traditionellen Fish-’n’-Chips-Restaurants. Das größte (über 160 Plätze): Harry Ramsdens. Gut ist auch das New Seafood Restaurant. Höheren kulinarischen Ansprüchen genügt das Restaurant des Hotels, The Royal York