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Archiv-Artikel

Jede Arbeit ist zumutbar

Nach der Einführung des Arbeitslosengeldes II müssen auch Hochqualifizierte jeden Job annehmen. Gewerkschaften fürchten daher um die Kaufkraft. Betroffen sind Handel, Gastronomie und Kultur

VON OLIVER TRENKAMP

Zehn Jahre Luft- und Raumfahrttechnik studieren, zwei Jahre arbeiten, den Job verlieren, ein Jahr nichts Neues finden und dann die Berliner Straßen fegen – eine absurde Vorstellung? Nicht ganz, denn nach Hartz IV ist das ab nächstem Jahr möglich. Für die arbeitslosen Akademiker und ähnlich hoch qualifizierten Jobsuchenden in Berlin brechen harte Zeiten an. Sie müssen jeden Job annehmen und werden weniger Geld bekommen als bisher. In der Folge könnten Einzelhandel, Gastronomie und Kulturszene der Stadt durch Umsatzeinbußen betroffen sein.

Der Hintergrund: Die Arbeitsmarktreform der Bundesregierung verschärft die Zumutbarkeitsregeln. Lehnt ein Langzeitarbeitsloser zumutbare Arbeit ab, muss er mit massiven Kürzungen rechnen. Bei mehrmaliger Ablehnung gibt es überhaupt kein Geld mehr. Langzeitarbeitslos ist, wer nach einem Jahr keinen neuen Job hat. Als zumutbare Arbeit gilt jede legale, nicht sittenwidrige Arbeit, also auch Minijobs ohne tarifliche Bezahlung. Ausbildung und sonstige Qualifikationen spielen bei der Bestimmung der Zumutbarkeit kaum noch eine Rolle.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in Berlin-Brandenburg warnt vor „Lohndumping“ und dem Sinken des allgemeinen Lohnniveaus. Safter Cinar, Sprecher des DGB, kritisiert die neuen Zumutbarkeitsregeln: „Das wird zur Folge haben, dass tarifgebundene Arbeitsplätze abgebaut und in Minijobs umgewandelt werden.“ Dass künftig jeder Job von jedem angenommen werden müsse, findet er absurd: „Die akademische Ausbildung kostet Millionen. Solche Leute unterqualifiziert zu beschäftigen, ist volkswirtschaftlich und für das Selbstwertgefühl der Betroffenen unsinnig.“ Zudem leide die Kaufkraft in Berlin. Das wäre in einer Stadt mit großem gastronomischen und kulturellem Sektor prekär.

Die Gefahr des Lohndumpings sieht Stefan Siebner von der Industrie- und Handelskammer Berlin (IHK) nicht. Es müsse allerdings gesichert sein, dass es sich bei den Minijobs „um zusätzliche Arbeit handelt“. Als Beispiele nennt er gemeinnützige Tätigkeiten wir Kinderbetreuung oder Hausaufgabenhilfe. Auch das Kaufkraft-Argument lässt er nicht gelten: „Bisher ist das doch Umverteilung von der rechten in die linke Tasche.“ Die Kaufkraft eines Langzeitarbeitslosen sei einem Steuerzahler vorher genommen worden, so Siebner. Wenn die Reformen langfristig für Wirtschaftswachstum sorgten, wäre auch wieder mehr Kaufkraft da. Er erkennt in Hartz IV „einen Schritt in die richtige Richtung“.

In der Berliner Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit werden die neuen Zumutbarkeitsregeln heruntergespielt. Sprecher Olaf Möller sagt: „Grundsätzlich gilt, dass das Bewerberprofil zur Stelle passen muss.“ Es müsse eine adäquate Tätigkeit gefunden werden. Er könne sich nicht vorstellen, dass „ein Pianist zum Kohlenschlepper“ gemacht werde. Arbeitslose Journalisten könnten aber durchaus im Pflegebereich eingesetzt werden. Furcht vor Lohndumping hält Möller für „Spekulationen“, die er nicht teile.

Doch selbst wenn Hartz IV langfristig für Entlastung auf dem Arbeitsmarkt sorgen sollte, werden viele Betroffene weniger Geld zur Verfügung haben. Die Kaufkraft sinkt also zumindest kurzfristig. Ein langzeitarbeitsloser, alleinstehender Luftfahrtingenieur, um beim Beispiel zu bleiben, wird in Zukunft etwa 650 Euro vom Staat bekommen – ganz egal, was er vorher verdient hat. Bleibt zu hoffen, dass die Berliner Unis rechtzeitig reagieren – mit Kursen wie „Straßenfegen für Anfänger“.