: Das Ende des Ego-Rap
Intellektueller und Hitfabrikant: Bisher war Kanye West ein gefragter HipHop-Produzent. Mit „The College Dropout“, seinem Debütalbum als Rapper, könnte er eine neue Ära einleiten. Ein Porträt
VON JONATHAN FISCHER
HipHop und ein unerschütterliches Ego – das gehörte bisher zusammen wie Sweater und Kapuze, Nadel und Platte, Beatbox und Mikrofon. Nicht weiter verwunderlich für ein Metier, das lange als Fortsetzung des Straßenkampfes mit anderen Mitteln galt, in dem der schlagfertigste Reim die stärkste Faust ablöste. Verbal darf ein Rapper jede Art von Größenfantasie ausleben. Tabu dagegen ist: seine Schwäche zeigen, die nagenden Selbstzweifel in der Brust. Empfindungen wie Trauer, Sehnsucht und Gewissensbisse? Von sporadischen Schwächeanfällen bei Eminem überließ der HipHop dieses Gefühl lieber den Soulsängern, ein Marvin-Gaye-, Bobby-Blue-Bland- oder Donny-Hathaway-Sample als sentimentales Surrogat musste zur Not reichen.
So zumindest verhielt es sich bis vor kurzem. In einer Zeit aber, in der das alte HipHop-Blendwerk aus toughem Slang, kugelsicheren Westen und Rolls-Royce-Konvois langsam an Glanz verliert, beginnen auch die einstigen Reviergrenzen und Tabus aufzuweichen: Mos Def etwa, Gralshüter des Untergrunds, zeigt sich in einem Video mit Jay-Z. Der Crystal schlürfende, Maybach fahrende „King of New York“ wiederum leiht seine Stimme den linken Agitprop-Rappern Dead Prez. Und 50 Cent wundert sich allen Ernstes, warum er nicht endlich als politisch bewusster Ethiklehrer wahrgenommen wird.
Symptome für die bisher größte Identitätskrise des HipHop? Oder nur das Erwachsenwerden eines allzu lange an seinen Selbstgewissheiten erstickenden Genres?
Kanye West jedenfalls kommt die allgemeine Verunsicherung gelegen. Nicht nur, dass der HipHop-Produzent in ihr einen Spiegel seiner eigenen Seelenlage vorfindet. Er scheint den Zwiespalt auch noch mit Fleiß zu verkomplizieren. „Ich bin HipHop, aber eben nicht nur HipHop“, sagt Kanye West. „Meine Geschichten kennt einfach jeder.“ Dabei spielt er nicht etwa auf die vielen Hits an, die er in den letzten drei Jahren für Alicia Keys, Brandy, Ludacris, Twista und vor allem Jay-Z produziert hat, die von zickigen Geigen untermalten Mitsingmelodien oder seine Lieblingsmasche, alte Soulsamples in die Tonlage der Mickymausstimme hochzupitchen. Nein, West spricht über seine Raps. Introspektive Texte, in die er mehr Zeit investiert haben will als in das so hoch gelobte musikalische Beiwerk: „Ich gebe einfach den Menschen eine Stimme, die bisher im HipHop nicht vertreten waren. Den Durchschnittstypen aus den Suburbs.“ Im Umkehrschluss heißt das wohl: „Rapper-Ego, time over!“
Der zur Zeit meistbeschäftigte Produzent Amerikas räkelt sich – entspannte Rückenlage, Füße auf dem Tisch – im Ledersofa des Münchner Marriott. Mit einer Hand rührt er im Kakao. Mit der anderen signalisiert er Gesprächsbereitschaft. Rosa Polo, grüner Sweater, weder Käppi noch Spiegelgläser – Kanye West legt offensichtlich kaum Wert auf die überkommenen Insignien seines Berufsstandes. Redet viel zu leise. Und nimmt manchmal mitten im Satz eine Aussage zurück, um sie durch eine bessere zu ersetzen. Cool klingt anders. Aber will West überhaupt cool sein? Klar ist nur so viel: Der schmale Mann ist gekommen, um sein Debüt als Rapper zu promoten. Und um am Ende eine Menge verwirrter Journalisten zurückzulassen. „The College Dropout“ (Roc-A-Fella/Universal) mag vordergründig das autobiografische Drama des Schulabbrechers Kanye West entrollen. In Wirklichkeit aber zielt das Konzeptalbum auf die Lebenslügen der afroamerikanischen Mittelschicht. Da träumt der Rapper einerseits den Sex-, Mode- und Autofantasien des Musikfernsehens hinterher. Um ein paar Verse später den eigenen Materialismus als Folge eines Minderwertigkeitskomplexes zu outen: „Buying things to cover up what’s inside.“
„Jeder meiner Songs spricht aus einer anderen Perspektive meiner Persönlichkeit“, sagt Kanye West. Und: „Es ist das intelligenteste HipHop-Album, das du je gehört hast.“ Er wirft das so beiläufig hin, ohne auch nur von der Kakaotasse aufzublicken. Wenn die Neptunes die schwarze Musik entschlackt, deren drohenden Wärmetod mit ihrer Punkästhetik konterten, lässt Kanye West nun das Pendel zurückschlagen. Der Produzent aus Chicago sucht die Zukunft in der Vergangenheit. Nimmt den Soul als Rohmaterial. Und erhebt den Selbstzweifel, der die Größe solcher Vorbilder wie Marvin Gaye und Curtis Mayfield ausmachte, zum Selbstzweck. Das ist nicht nur mutig. Sondern realer als jede Platinum-gekrönte Mordstory.
Die afroamerikanische Mittelklasse hat Legionen von Rappern hervorgebracht, die viel darum gaben, mindestens so zäh und straßengegerbt zu wirken wie ihre Kollegen aus den Sozialsiedlungen. Kanye West aber scheint die heroischen Posen nicht nötig zu haben. Die Frage nach der Botschaft des mitreißenden Kinderchors, der auf seiner Platte das Lied vom Drogenhandel als Bafög-Ersatz schmettert, beantwortet Kanye West nur mit einer gesungenen Liedzeile: „You know the kids start acting the fool, when you stop the programs for after school …“ Ob er denn selbst niemals Drogen genommen hat? „Ich rauche nicht einmal Marihuana.“
Alle Widersprüche schwarzer Geschichte kennt er aus dem eigenen Elternhaus: Kanye Wests Vater, ein ehemaliger Black-Panther-Aktivist, arbeitet als christlicher Eheberater. Seine Mutter unterrichtet Englisch an der Chicagoer Universität. Als Kind, so erzählt er, habe er viel Zeit in der Kirche verbracht. „Ich schlief meist auf dem Schoß meiner Großmutter ein. Es war so langweilig. Aber es hat mir ein Empfinden dafür vermittelt, Gutes vom Bösen zu unterscheiden.“ Gut und Böse, menschlicher Wille und Schicksal – der Rapper soll im Gespräch immer wieder auf solche moralischen Kategorien zurückkommen. Etwa, wenn er davon erzählt, wie er auf der Kunsthochschule in Chicago damit anfing, Kleider und Schuhe zu designen. Wie er als typisches Einzelkind immer alle Fäden selbst in der Hand halten musste, HipHop anfangs nur zur Untermalung selbst produzierter Videospiele bastelte, und später, angefixt von der Macht des Wortes, niemanden fand, der seine Raps aufnehmen wollte. Ein Tape von ihm aber geriet Jay-Z in die Finger – der Kanye West postwendend als Produzent seines Klassikers „The Blueprint“ engagierte.
West aber wollte nicht nur die Hits der anderen formen, er hatte selbst etwas zu sagen. Ein beinahe tödlicher Autounfall erschien ihm da als göttlicher Fingerzeig: „Ich wusste plötzlich, wie schnell es mit dir zu Ende gehen kann. Also ging ich noch mit den Drähten im Unterkiefer ins Studio. Ich hatte Schmerzen. Und nahm einen meiner besten Songs auf. ‚Through the wire‘.“ Ein Stück, das die Drähte im Kiefer auf das Ergreifendste mit seinem Chaka-Khan-Sample verbindet. Was lag für West angesichts des Schocks näher, als sich auf das Gospelerbe zu besinnen? Also bastelt er Songs wie „Jesus Walks“, wo ihm die aufpeitschenden Gesänge des Harlem Boys Choir als Kulisse für den ganz großen Geschichtsbogen vom Killer, Drogendealer und Stripper zur eigenen Vorstadtexistenz dienen – „sie sagen, du darfst über alles rappen außer Jesus“ – und er zwar keine Lösung, aber die lakonische Feststellung präsentiert: „We at war with terrorism, racism but most of all we at war with ourselves …“
Offensichtlich hat er damit eine Tonlage gefunden, die ziemlich genau das Lebensgefühl einer Generation von Jugendlichen trifft, deren Eltern in den Kämpfen der Bürgerrechtsbewegung scheiterten und die nun zwischen trotzigem Materialismus und spiritueller Sehnsucht nach Orientierung sucht. „Die Plattenfirmen denken, HipHop-Fans sind ignorant. Dass sie keine Nahrung für ihre Seele brauchen. Aber ich pfeife auf Marktforschung.“ Kanye West löffelt immer noch in der leeren Kakaotasse. Als ob ihm das stetige Klingkling beim Nachdenken helfen würde. Vielleicht aber gehört die vorgebliche Versenkung auch zu seiner Dramaturgie – um dem Gesprächspartner urplötzlich ins Gesicht zu schauen: „Ich habe über mein Leben nachgedacht. What the hell! Warum sollte ich nicht zugeben, dass ich unsicher bin?“
Wenn „The College Dropout“ schon jetzt als Klassiker des gerade mal 30-jährigen HipHop gefeiert wird, dann auch wegen des Kurzschlusses von suchendem Geist und Gassenhauer, ja, seiner von geradezu unwiderstehlichen Melodien beförderten Dialektik. Denn was nützt schon der erkenntnisförderndste Reim, wenn er die Massen nicht erreicht? Insofern könnte Kanye West durchaus dem seit Public Enemy im Untergrund dümpelnden Conscious Rap wieder auf die Beine verhelfen. Gerade produziert er das neue Album seines Chicagoer Jugendfreundes Common. Einer der größten Freigeister und Lyriker des HipHop. Nur mit den Charts hat das bisher nie so richtig geklappt. Kanye West – „meine Auftragsbücher sind auf Jahre hinaus voll“ – will das nun ändern: „Common bin ich einst rund um die Stadt auf jede Jam gefolgt. Er war mein Vorbild. Er sollte längst ganz oben sein.“ Keine Frage: Übersehene Intellektuelle gibt es im HipHop wie Sand am Meer. Originelle Hitproduzenten nur eine Hand voll. Gut, wenn man da einen wie Kanye West zum Kumpel hat. Einen, für den die Fragen immer noch wichtiger sind als jede Antwort.