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Archiv-Artikel

Hitler im Plattenbau

Die Welt der Jugend hat Rückflugtickets: Backpacking gilt heute nicht mehr als subversiv, sondern als berufsqualifizierende Maßnahme. Ein Selbstversuch im Traveller-Milieu, das jetzt auch Berlin besucht

von PATRICK BATARILO

Es ist 21 Uhr. Tim, einer von zwei Kanadiern im dorm, blickt auf seine Fingernägel: Sie sind grell-grün lackiert. Der Lack glänzt noch. Mandy, eines der vier Mädchen, stößt einen kurzen Schrei aus, dann schiebt sie den Kanadier durch die offene Tür. Die anderen Mädchen, alles Amerikanerinnen, setzen ihre Sonnenbrillen auf. Aus dem kleinen Raum im Circus Hostel im Weinbergsweg in Mitte geht es nach unten in die hauseigene Bar. Auf dem Flur wird noch ein Schotte mit roter Perücke aufgelesen. Unten in der überfüllten Bar läuft Salsa. Niemand hier kennt sich länger als 24 Stunden. Man tanzt, flirtet und nutzt jede Gelegenheit, einen auf Jugend der Welt zu machen.

Geht es wirklich nur um Spaß beim Backpacker-Tourismus von heute? Was zieht sie hierher, die meist aus Amerika oder Australien stammenden Rucksackreisenden, die den Sommer über in Berlin zu sehen sind – mittags am Checkpoint Charlie, abends in den Kneipen am Hackeschen Markt, fast immer in Gruppen, jeder mit einer Ausgabe des „Lonely Planet“ in der Hand? Glauben wir Jack Kerouacs „On the Road“, das sicher auch die „Lonely-Planet“-Redakteure gelesen haben, dann war der Backpacker einmal einer, dem mit der Reiselust der Ausbruch aus der grauen Uniformität der Heimat gelang: Seine Freiheit bestand darin, seinen Lebensstil, seine Sexualpartner und Reisebegleiter – das eine unterscheidet sich oft nicht vom anderen – selbst zu wählen. Es ging um Selbstfindung, um das In-Berührung-Kommen mit der „echten“ Welt „out there“.

Aber so wie Kerouacs improvisierte Übernachtungen „on the road“ von einer funktionierenden Reisebranche in Backpacker Hostels verlegt worden sind, so sind auch die begleitenden Werte inzwischen längst „angekommen“. Bei vielen Travellern gilt das Backpacking keineswegs mehr als subversiv, sondern als berufsqualifizierende Maßnahme – wenn es nebenbei dann auch noch Spaß macht, umso besser. Rucksackreisen, das ist inzwischen eine Sache für die Mittelschicht – eine Frage der Werte, aber auch der Zeit und des Geldes. Nicht jeder kann sich einen Europaaufenthalt zwischen fünf Wochen (Amerikaner) und einem Jahr (Australier) leisten.

Und noch von einer anderen Seite wird am Mythos Backpacker gekratzt. Alex Garland hat es in seinem Roman „The Beach“ einem Millionenpublikum erzählt: Am Ende ist der, der auszieht, dem Unbekannten zu begegnen, heute allzu oft von lauter bekannten Gesichtern umgeben: den anderen Backpackern, der „Jugend der Welt“, die wie der Igel im Gleichnis immer schon – Partys feiernd – da ist, wo der Hase hinwill. Sprung zurück.

Es ist fünf Uhr nachmittags. Aus den Lautsprechern über der Rezeption dudelt Claptons „Layla“. Unter einer Nachtaufnahme des Fernsehturms sitzen Maggie, eine rundliche Schwarze mit Nickelbrille, und Todd, ein schmächtiger weißer Junge. Maggie ist aufgedreht und redet viel. Todd wirkt müde. Wie Maggie hat er gerade das College beendet. In Atlanta, als einer der Besten. Doch im Gegensatz zu Maggie ist Todd noch ohne Job. Der Besuch der „Alten Welt“ soll ihm zum nötigen Selbstvertrauen verhelfen. Doch das Selbstvertrauen ist bislang eher Maggies Sache. So hat Maggie in den drei Wochen, die sie jetzt in Europa sind, die Reiseroute zusammengestellt: London, Paris, Amsterdam. Das ist die obligatorischen Route aller Backpacker. Auch das Rückflugticket mit festen Datum war Maggies Entscheidung: Das Abenteuer muss in einen festen Rahmen passen.

Neu an der Reiseplanung vieler Backpacker ist übrigens der Zwischenstopp Berlin. Noch lange Zeit nach der Wende wurde die Stadt als Symbol des „fanatischen, dunklen“ Europas wahrgenommen, erklärt Andreas, der Geschäftsführer des Circus Hostels. Erst langsam entwickelte sich Berlin in den Augen vieler Backpacker zum Symbol für die Öffnung Europas. Zudem war es von hier aus plötzlich möglich, den Wandel im Osten zu beobachten, ohne den Osten bereisen zu müssen. Das scheint auch die achtzehn Backpacker anzutreiben, die um 10 Uhr morgens zu einer „walking tour“ durch Berlin antreten. Die meisten sind Amerikaner, es gibt ein paar Kanadier, ein Pärchen aus Australien und ein Mädchen aus Malaysia. Es ist ein sonniger, nicht zu heißer Tag. Wie eine sehr brave Klasse auf Ausflugsfahrt wartet man geduldig auf die Vermittlung des kulturellen Mehrwerts der „Alten Welt“. Die Tour wird acht Stunden dauern.

Als Boris in seinen Erklärungen bei der Rolle Westdeutschlands in der Wiedervereinigung angelangt ist, erhebt plötzlich einer der Backpacker Einspruch. Ihm sind Boris’ Geschichten zu einseitig. Tom, ein 26-jähriger Amerikaner, lebt seit einem halben Jahr in Leipzig, wird er später erzählen, wo er deutschen Geschäftsleuten Englisch beibringt. Wo er hinreist, arbeitet er, dann zieht er weiter, sagt er, und dass er vor Leipzig bereits in Melbourne, Tokio und Düsseldorf gewesen ist. Ein Rückflugticket hat er nicht. Tom sticht aus der Herde der Kulturverwerter und Partytouristen heraus. Ohne dabei einem Hippieklischee zu enstprechen, bedeutet ihm Backpacking immer noch mehr als der Partykampf um die Zulassung zum nationalen Karriere-Highway.

Weiter geht die Tour: Am Reichstag vorbei zur Wilhelmstraße. Inzwischen ist es vier. Müdigkeit macht sich breit. Kathy, die zuvor noch durch witzige Bemerkungen auffiel, ruft angesichts einiger Plattenbauten, die auf dem Gelände der Reichskanzlei errichteten wurden, erstaunt aus: „Hat Hitler wirklich da drin gewohnt?“ Auf einmal ist lautes Jubeln zu hören. Eine zweite Gruppe Backpacker. Man kennt sich noch aus Paris. Während man sich laut begrüßt – so froh ist der Hase, dass er am Ende wieder dem Igel begegnet – bleibt Tom ein Stück zurück. Er lächelt. Er mag seine Landsleute und ihre Begeisterungsfähigkeit. Heute Abend wird er mit ihnen in der Bar des Hostels feiern. Aber er ist auch ganz froh, dass er anderntags nach Leipzig zurückfährt. Und dann? Moskau vielleicht. Oder Belgrad. Der Osten Europas hat ihn schon immer interessiert. Danach aber muss auch er mal wieder nach Hause zurück, nach Amerika.