Bittere Früchtchen

Obst und Gemüse sind in Deutschland zur Hälfte mit Giftrückständen belastet, in fast jedem zehnten Fall werden auch noch die Grenzwerte überschritten

VON HANNA GERSMANN

Frisch und knackig sollen Apfel, Gurke und Tomate im Regal aussehen: Die Kunden wollen Vitamine in IA-Qualität. Fünfmal am Tag!, raten auch die Ernährungsexperten. Dass Ökotest mal allerlei Verbotenes in der Karotte entdeckt, Greenpeace vor Chemie in Paprika warnt – geschenkt. Einzelfälle!

Einzelfälle? Von wegen! Hinter der appetitlichen Schale stecken unzählige Gifte. Und zwar in gut jedem zweiten Obst oder Gemüse, das in Deutschland angeboten wird. Ob es frisch ist oder aus der Kühltruhe kommt, ist dabei egal.

In Maßen sind die Rückstände der Spritzmittel gegen lästige Insekten oder Schimmelpilze sogar erlaubt. Doch in knapp neun Prozent aller Fälle werden in der Republik die zulässigen Höchstmengen sogar noch überschritten. Das haben regelmäßige Kontrollen im Labor gezeigt. Die Europäische Kommission schreibt sie allen Mitgliedstaaten vor. Nun hat sie die Ergebnisse für 46.000 Proben aus dem Jahre 2002 veröffentlicht – in den Tiefen des Internets. Dort warnt EU-Verbraucherkommissar David Byrne still und leise, dass „ein Gesundheitsrisiko nicht ausgeschlossen werden kann, insbesondere bei anfälligen Gruppen“. Das sind Alte, Kinder und Kranke.

Es geht um Imazalil in Bananen, Methiocarb in Bohnen oder Thiabendazol in Orangen. Die Namen der Gifte sind kompliziert, sagen dem Laien nur wenig. Bei Hermann Kruse, Toxikologe an der Universität Kiel, ist das aber anders – er ist besorgt. „Die Menschen fallen nicht gleich tot um“, sagt er, „dafür ist die Belastung aber schleichend.“ Die Rückstände summierten sich im Körper zu einer unangenehmen Melange. So manches Pestizid kann Krebs auslösen oder wie ein Hormon wirken. Vor allem die Tendenz beunruhigt Kruse: Die illegalen Überschreitungen haben sich seit 1996 europaweit verdoppelt. Die chemischen Analysen seien genauer, Grenzwerte strenger geworden, wiegelt indes Byrne-Sprecherin Beate Gminder, ab.

Wer sucht, der findet!, soll das heißen. Genau das hält Greenpeace-Experte Manfred Krautter aber für ein Problem. Bisher kümmern sich die deutschen Lebensmittelkontrolleure nämlich gerade mal um die Hälfte der 800 Wirkstoffe, die auf dem Markt zugelassen sind. Krautter: „Vermutlich lauert in jeder konventionellen Frucht Chemie, nur wissen wir es noch nicht.“ Der Grund ist aus seiner Sicht klar: Die Qualitätskontrollen sind miserabel. Selbst große Handelsketten wie Aldi, Edeka und Spar, „die einfach nur billig kaufen, haben nichts zu befürchten“, sagt Krautter.

Erstaunlich. Eigentlich sollen Kontrolleure nicht nur durch Supermärkte, sondern regelmäßig auch durch Großmärkte, Obstläden und über Wochenmärkte laufen, um Proben zu nehmen. Mit Gift belastete Tomaten oder Weintrauben müssen sie umgehend aus dem Verkehr ziehen.

Für die bitteren Kostproben sind die Bundesländer verantwortlich. Seit mehr als zwanzig Jahren klagen nun aber schon Experten von Hamburg bis München darüber, dass es nicht zum Besten steht mit der Überwachung. So dauern die Analysen im Labor schon mal einige Tage. Die Waren sind dann aber längst gegessen. Auch der Sprecher der grünen Bundesverbraucherministerin Renate Künast, Andreas Schulze, konstatiert ein „Vollzugsdefizit“. Doch sich einmischen? Das brächte wenig, sagt er, solange „die Länder den Verbraucherschutz zur Sparbüchse machen“.

So tut sich erst einmal nichts. Dabei machen Wissenschaftler die Politiker jetzt schon wieder auf eine andere, völlig unterschätzte Gefahr aufmerksam: Gut ein Viertel von dem Turboobst in deutschen Märkten ist mittlerweile mit einem richtigen Chemiecocktail belastet. Von der Blüte bis zur Ernte werden Äpfel und Birnen auf den Plantagen mit vielen Mitteln viele Male gespritzt. Ein wenig zu hoch dosiert, ein wenig zu spät vor der Ernte, das kommt vor. Geht es um Grenzwerte, werden bisher aber nur die Risiken, die von einem isolierten Stoff ausgehen, bewertet. Professorin Irene Witte beschäftigt sich an der Universität Oldenburg hingegen damit, wie die Cocktails in Obst und Gemüse wirken. Ihr Fazit ist ernüchternd: „Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen, wenn einzelne Komponenten ungefährlich sind. Mit anderen Chemikalien zusammen können sie plötzlich toxisch wirken“, sagt die Expertin.

Also statt frischem Gemüse Vitaminpillen aus der Apotheke? Dazu rät auch Witte nicht. Die gesunde Wirkung des Obstes kompensiere so manchen Giftrest, sagt sie. Greenpeace-Mann Krautter hat immerhin ein paar Tipps parat, um die tägliche Ration Chemie zu mindern: „Käufer sollten auf die Herkunft der Produkte achten.“ Seine Lieblingsbeispiele: Paprika aus der Türkei und Spanien seien besonders belastet, die aus den Niederlanden weniger. Trauben aus den Mittelmeerländern schnitten schlechter ab als die aus Südafrika. Und bei Erdbeeren? „Unbedingt auf heimische Ware achten!“, rät Krautter. Obst und Gemüse gründlich waschen oder schälen? Hilft nicht, sagt er. Äußerste Salatblätter entfernen? Auch nicht.

Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte ohnehin auf Biokost umsteigen. Dort werden nur ganz selten Rückstände gefunden, die die Grenzwerte überschreiten. Die Ökolandwirte haben sich verpflichtet, keine Ackergifte einzusetzen. Konventionelle deutsche Bauern dagegen versprühen auf Äckern und in Gewächshäusern im Jahr rund 30.000 Tonnen Pflanzenschutzmittel. Die Politik schaut dabei seit Jahren einfach nur zu. Toxikologe Kruse erklärt: „Handeln kostet immer Geld.“