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Archiv-Artikel

„Wir sind keine Hartz-Sklaven“

Erst waren es 600. Zur zweiten Magdeburger Montagsdemo kommen mindestens 6.000. Doch den Ruf „Wir sind das Volk“ stimmen die Rechten an

AUS MAGDEBURG SASCHA TEGTMEIER

10.000. Noch eine Stunde vor Beginn der Demonstration war sich Andreas Erholdt sicher, er übertrieb mit dieser Zahl maßlos. Doch dann gingen vorgestern tatsächlich tausende auf die Straßen der Magdeburger Innenstadt, um gegen die Hartz-IV-Reformen zu protestieren. Und das obwohl keine Partei, keine Gewerkschaft, kein Verband dazu aufgerufen hatte. Es war allein Erholdts Idee, an die Tradition der Montagsdemonstrationen von Leipzig anknüpfen und dem Volk Gelegenheit zu geben, seinem Unmut Luft machen.

Und den gibt es offensichtlich in Magdeburg, wo jeder fünfte Bürger arbeitslos ist. „Jeder ist hier von Hartz IV betroffen oder kennt zumindest jemanden, der betroffen ist“, sagt Erholdt. Schon bei der ersten Montagsdemonstration in der Woche zuvor kamen 600. Dieses Mal hat sich die Zahl selbst nach der konservativen Schätzungen der Polizei verzehnfacht.

Erholdt ist selbst betroffen. Nach der Wende hat er keine feste Arbeit mehr gefunden. Durch die Hartz-Reformen würde der 42-Jährige im nächsten Jahr anstatt 500 Euro Arbeitslosengeld nur noch 300 bekommen, wie er heute erstaunlich unaufgeregt feststellt. Doch es gab eine Zeit, da hat er sich gedacht „Mir reicht’s, wir müssen auf die Straße“ und angefangen, kleine A4-Zettelchen an die Häuser der Innenstadt zu kleben.

Und da steht er nun, um 17.30 Uhr, inzwischen schon das zweite Mal, umringt von Verbündeten. Eine halbe Stunde vor Beginn der Demo ist der Magdeburger Domplatz bereits übervoll mit traurig-erregten Gesichtern aus allen Altersgruppen: Familienväter und -mütter, Rentner, auch Jugendliche.

Mit dem 6-Uhr-Läuten setzt sich der Demonstrationszug in der Abendsonne bedächtig Richtung Bahnhof in Bewegung. Still wie ein Trauermarsch zunächst. Neben Erholdt fährt ein VW-Golf mit Lautsprecheranlage, den die IG Metall zur Verfügung gestellt hat – allerdings ungebeten. Auch der DGB hat sich schnell noch beteiligt und Erholdt eine Hand voll Ordner-Armbinden geschenkt. Wirklich willkommen ist ihm das aber nicht. „Ich kann doch nicht zulassen, dass sich ein Verband hier an die Spitze stellt“, sagt er. „Die geben sich doch sofort zufrieden, wenn der Schröder die Arbeitslosenhilfe um ein paar Euro erhöht.“ Der Protest „muss aus dem Volk heraus kommen“, sagt er und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Es ist ein drückend-schwüler Tag in Magdeburg, doch was sich hier nach einigen Metern des Schweigemarsches entlädt, ist kein Gewitter. Ein untersetzter Mann mit hochrotem Kopf ist einer der Ersten der das Schweigen bricht. „Wir wollen Arbeit! Wir haben die Schnauze voll!“, brüllt er aus vollem Hals. Andere setzen ein. Niemand bläst lustlos in eine Gewerkschaftstrillerpfeife, niemand ist hier, um sein Gewissen zu beruhigen. Es ist die blanke Angst, die in den Magdeburger Abendhimmel hallt.

„Hartz IV ist nichts Greifbares“, erklärt Erholdt. Die Menschen würden nicht wissen, was genau sie erwartet, „sie wissen nur, es ist nichts Gutes“, sagt der Initiator der Magdeburger Montagsdemo. Unklar bleibt, was genau er damit erreichen will. Einen Regierungssturz? Revolution? „Hartz IV muss weg, so lange es nicht genügend Arbeit gibt“, sagt er in dem Stakkato, das den Magdeburgern in die Wiege gelegt zu sein scheint.

Am 3. Oktober soll sich die angestaute Wut in Berlin entladen. Dann möchte Erholdt „ein bis zwei Millionen Menschen“ auf die Straße bringen. Denn: „Herr Schröder hat mal gesagt, bei so vielen würde er anfangen nachzudenken. Wolln’wa doch mal sehn, ob er überhaupt denken kann“, ereifert sich Erholdt.

Marlies Waldenheim ist das erste Mal dabei. Sie fürchtet, dass sie durch Hartz IV künftig keinerlei staatliche Unterstützung mehr bekommen wird. Denn nun werde ihr auch das Lehrgeld ihres Sohnes angerechnet. „Wir sind nicht die Sklaven von Hartz IV“, steht auf dem gelben Plakat, das sie in die Luft streckt. Hoffnung, eine Arbeitsstelle zu finden hat die Kellnerin, die sich zur Werbetechnikerin fortgebildet hat, ohnehin nicht mehr: „Ab 40 ist man als Frau doch weg vom Fenster.“ Kommt Hartz IV tatsächlich, wollen Nicole Schneider, 30, und ihr Mann sogar auswandern. Beide sind arbeitslos. „Ich weiß schon gar nicht mehr wie oft ich schon umgeschult wurde“, sagt sie frustriert, „wir haben keine Perspektive mehr.“

Etwa nach der Hälfte der Strecke stürzt auf einmal ein Trupp von 15 Rechten an den Kopf der Demo. Schnell, geplant und aggressiv. Wie Geier, die Aas gerochen haben. Es ist das ewige „Arbeit für Deutsche“, das auch die „Nationale Jugend Magdeburg“ mit geballten Fäusten grölt. Die glatzköpfigen Jugendlichen vermeiden es aber, Verfassungswidriges zu brüllen. Erschreckend gut reihen sie sich in den Demonstrationszug ein. Erholdt konnte das nicht verhindern, wie er sagt. „Jeder ist auf der Demo willkommen, auch wenn wir die nicht hier haben wollen.“ Es ist unklar, wie viele Gesinnungsgenossen der Krawallrechten noch unauffällig in der Demo mitmarschieren.

Die Berührungsängste der Magdeburger scheinen nicht allzu groß. Es sind die Glatzen, die am Bahnhofsvorplatz beginnen, rhythmisch „Wir sind das Volk“ zu rufen. Bald stimmen die meisten Demonstranten ein. Wie 1989, nur mit Neonazis eben.

Der Auftritt der Rechten kann Erholdts Freude nicht trüben. „Wenn es so weiter geht, kommen nächste Woche 100.000“, sagt er, als er am Ende der Demo vor eine Fernsehkamera gezogen wird. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren“, zitiert sein T-Shirt einen Satz von Bert Brecht.