Laokoon-Festival auf Kampnagel eröffnet mit „Kamov. Ein Todeslauf“ über einen kroatischen Dichter der Jahrhundertwende: Dionysisches Fest
... worin aber hat das Vergehen des Ham, eines der drei Söhne Noahs, eigentlich bestanden? Darin, dass er, wie in der Bibel zu lesen, „des Vaters Blöße sah“, oder darin, dass er dies seinen Brüdern berichtete, die den Vater daraufhin wieder bekleideten, der wiederum Ham, den Verräter, verfluchte? Ist es also legitim, die Wahrheit zu wissen, solange man sie nur für sich behält? Ist man aufgefordert, taktvoll zu verschweigen, dass vermeintliche Autoritäten Schwächen haben, damit deren öffentliches Zerrbild auch ja nicht beschädigt werde? Und bedeutet schon die bloße Öffentlichmachung derselben wahre Rebellion?
Der kroatische Dichter Janko P. Kamov (1886–1910), dessen Künstlername „Kam“ sich von Noahs Sohn Ham ableitete, muss das so gesehen haben: Der Generation der „poètes maudits“ gehörte der 24-jährig gestorbene Dichter an, den Slobodan Snajder vor 25 Jahren ins Zentrum seines Stücks Kamov. Ein Todeslauf, stellte, das am kommenden Mittwoch das vierte Laokoon-Festival auf Kampnagel eröffnet – das letzte unter Leitung von Hidenaga Otori.
Eine Mixtur aus Spektakel, Epitaph und Abgesang hat Regisseur Branko Brezovec mit seiner Show geschaffen, die er auch „Fresco“ nennt und die –, gespickt mit Hits der 60er Jahre – bewusst die Parallele zwischen Decadence und 68ern zieht. Und Kamov? Schon im katholischen Internat entpuppte er sich als Rebell; dass er schließlich inmitten eines Anarchistenaufstands in Barcelona starb, folgte so einer gewissen Logik. Als „Nekrographie“ bezeichnet Brezovec das mit 40 Darstellern besetzte Spektakel – und zeichnet in einem Hymnus auf Kamovs Dichtung, die die kroatischen 68er als Hymne an die Freiheit begriffen, die betäubend kurze Vita eines Menschen nach, der nichts als Freiheit und Wahrhaftigkeit ersehnte, und der an der Forderung nach allumfassender Authentizität erstickte: Nationalistische Strömungen lehnte er ebenso ab wie die Allüren der kroatischen Intelligenzija und der Bourgeosie, begehrte gegen Autoritäten im Moment ihrer Geburt auf und tickte wie ein Magnet treffsicher immer in die entgegengesetzte Richtung – egal, ob es sich um verheuchelte Moral oder das Diktat der Masse handelte.
Eine fast postmodern zu nennende Rebellion, eine Collage des Widerstands also hat Brezovec in einer Art dionysischen Festes inszeniert. Eine ewige Suche nach Wahrheit ist dieses „theatrum mundi“ geworden, dessen Protagonist nicht bemerkte, dass es sich um einen Reigen handelt, dessen Gravitation letztlich niemand entkommt.
Als „selbst gewählten Tod“ hat Snajder das Ableben Kamovs einmal bezeichnet. Und vielleicht ist dies die einzige Vokabel, die wirklich trifft und die zugleich die Tragik eines Menschen umreißt, der penetrant nirgends hineinpasste und sich bestimmt nicht in die Kategorie der Verfluchten, der „maudits“ hätte einordnen lassen und dessen Modus die ewige Suche nach der Wahrheit war, nicht das Finden. Denn just im Moment des vermeintlichen Gralsfundes wird ein je neuer Zweifel geboren. Petra Schellen
Eröffnung des Laokoon-Festivals mit „Kamov. Ein Todeslauf“, in Szene gesetzt vom Ensemble ZeKaeM: Mi, 11.8., 20 Uhr, Kampnagel. Ab 22.30 Uhr Eröffnungsparty mit „Stora“
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