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Archiv-Artikel

ANGELA MERKEL TRITT EINEN OST-WEST-KONFLIKT LOS – ZU RECHT Auch der Westen muss sich anstrengen

Vor kurzem watschte Angela Merkel einen ihrer Jungfunktionäre ab, weil er einen mittleren Generationenkonflikt lostrat. Jetzt ist es die CDU-Chefin selbst, die polarisiert: nicht zwischen Alt und Jung – wie JU-Chef Mißfelder mit seiner Drohung, Rentnern keine Hüftgelenke mehr zu finanzieren –, sondern zwischen Ost und West. Statt die Arbeitszeiten in Ostdeutschland zu verkürzen, so die Oppositionsführerin, sollten die Westler künftig so viel arbeiten wie die Ostler. Doch ehe der westdeutsche Empörungsreflex einsetzt, sollte man auf ein Verdienst ihres Vorschlags hinweisen. Ob er arbeitsmarkttheoretisch taugt, mögen die Sozialexperten beurteilen, aber einer politischen Grundsatzfrage verhilft er zu Aufmerksamkeit: Liegt die Zukunft der Republik im Modell Ostdeutschland?

Man kann diese These für den viel proklamierten Umbau des Sozialstaats diskutieren, aber natürlich auch darüber hinaus. In einer unverändert westzentrierten Republik ist die Debatte bisher auf ein paar Intellektuelle beschränkt geblieben, ostdeutsche zumeist. Wolfgang Engler mit seinem Diktum vom Osten als Avantgarde ist der Bekannteste von ihnen. Mit Merkel greift erstmals eine prominente Politikerin diese Gedankenfigur auf: Vom Osten lernen heißt siegen lernen. Weniger freundlich ausgedrückt: Der Westen Deutschlands muss sich anstrengen – weil es der Osten schon seit bald 15 Jahren tut.

Merkels Stoßrichtung darauf zu schieben, dass sie aus dem Osten kommt, wäre billig. Zumal von einem neuen Bild des Ostens vor allem der Westen profitieren würde. Wenn nichts so bleiben kann wie es ist – wie die Reformrhetoriker uns stets versichern –, dann können die Ostler ihren Brüdern und Schwestern ein Vorbild sein. Schließlich wurden sie nach 89 Pioniere im Totalumbau einer Gesellschaft, die nicht länger überlebensfähig war. Einiges spricht dafür, dass der Gedanke nicht auf Merkels Partei beschränkt bleibt. Bei einem Vortrag im Willy-Brandt-Haus vertrat neulich die Publizistin Rita Kuczynski ähnliche Thesen. Zu ihren Füßen saß der Kanzler und nickte stumm. Der Tipp sei gewagt: Lange wird es nicht dauern, bis die Überlegung in einer seiner Reden zur Agenda 2010 auftaucht. PATRIK SCHWARZ